Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

dicht hinter ihm an die Wand, ein altes Mütterchen sagte
vernehmlich: "Ja, ja!" der kalte Luftzug strich über sein
Gesicht, die Gardinen flatterten und die Decke flog weg.
Und indem Mannelin sich besann, aber ganz ruhig liegen
blieb, wie wenn er nichts merkte, sah er schon die alte
Kratt in der Mitte des Zimmers gegen die Fensterecke
zuschlurfen, wo die Commode stand und der Mond schien,
wie gestern. Er war jetzt doch ziemlich überrascht, und
das Herz klopfte ihm bedeutend, weil er die Natur und
Tragweite des Abenteuers nicht kannte. Aber wie der
Jäger, von einem Thiere überrascht, sein Gewehrschloß
schnell in Ordnung bringt, stellte Mannelin geschwind
seine Gedanken in eine kleine Reihe, als ob es Polizei¬
leute wären, und sich selbst an ihre Spitze. Ohne sich
zu rühren, folgte er der Erscheinung aufmerksam mit den
Augen und sah, wie sie an der Commode tastete und die
Klappe öffnete, kurz alles that, wie ich es gesehen. Als
sie nun auf dem Papiere radirte, war er schon leise auf¬
gestanden und ihr auf unhörbaren Socken nachgeschlichen
und stand hinter ihrem Rücken. Das grauenhafte buckelige
Weibchen kratzte, schaute, keuchte und hustete und blies
den Staub weg, kurz war so geschäftig wie der Teufel,
und Mannelin guckte dem Gespenste still über die Schulter,
bis es fertig war und sein schändliches heiseres Gelächter
aufschlug. Da sagte er plötzlich:

"Na, Frauchen, was treiben Sie denn da?"

Wie eine Schlange schnellte das Gespenst empor und

dicht hinter ihm an die Wand, ein altes Mütterchen ſagte
vernehmlich: „Ja, ja!“ der kalte Luftzug ſtrich über ſein
Geſicht, die Gardinen flatterten und die Decke flog weg.
Und indem Mannelin ſich beſann, aber ganz ruhig liegen
blieb, wie wenn er nichts merkte, ſah er ſchon die alte
Kratt in der Mitte des Zimmers gegen die Fenſterecke
zuſchlurfen, wo die Commode ſtand und der Mond ſchien,
wie geſtern. Er war jetzt doch ziemlich überraſcht, und
das Herz klopfte ihm bedeutend, weil er die Natur und
Tragweite des Abenteuers nicht kannte. Aber wie der
Jäger, von einem Thiere überraſcht, ſein Gewehrſchloß
ſchnell in Ordnung bringt, ſtellte Mannelin geſchwind
ſeine Gedanken in eine kleine Reihe, als ob es Polizei¬
leute wären, und ſich ſelbſt an ihre Spitze. Ohne ſich
zu rühren, folgte er der Erſcheinung aufmerkſam mit den
Augen und ſah, wie ſie an der Commode taſtete und die
Klappe öffnete, kurz alles that, wie ich es geſehen. Als
ſie nun auf dem Papiere radirte, war er ſchon leiſe auf¬
geſtanden und ihr auf unhörbaren Socken nachgeſchlichen
und ſtand hinter ihrem Rücken. Das grauenhafte buckelige
Weibchen kratzte, ſchaute, keuchte und huſtete und blies
den Staub weg, kurz war ſo geſchäftig wie der Teufel,
und Mannelin guckte dem Geſpenſte ſtill über die Schulter,
bis es fertig war und ſein ſchändliches heiſeres Gelächter
aufſchlug. Da ſagte er plötzlich:

„Na, Frauchen, was treiben Sie denn da?“

Wie eine Schlange ſchnellte das Geſpenſt empor und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0262" n="252"/>
dicht hinter ihm an die Wand, ein altes Mütterchen &#x017F;agte<lb/>
vernehmlich: &#x201E;Ja, ja!&#x201C; der kalte Luftzug &#x017F;trich über &#x017F;ein<lb/>
Ge&#x017F;icht, die Gardinen flatterten und die Decke flog weg.<lb/>
Und indem Mannelin &#x017F;ich be&#x017F;ann, aber ganz ruhig liegen<lb/>
blieb, wie wenn er nichts merkte, &#x017F;ah er &#x017F;chon die alte<lb/>
Kratt in der Mitte des Zimmers gegen die Fen&#x017F;terecke<lb/>
zu&#x017F;chlurfen, wo die Commode &#x017F;tand und der Mond &#x017F;chien,<lb/>
wie ge&#x017F;tern. Er war jetzt doch ziemlich überra&#x017F;cht, und<lb/>
das Herz klopfte ihm bedeutend, weil er die Natur und<lb/>
Tragweite des Abenteuers nicht kannte. Aber wie der<lb/>
Jäger, von einem Thiere überra&#x017F;cht, &#x017F;ein Gewehr&#x017F;chloß<lb/>
&#x017F;chnell in Ordnung bringt, &#x017F;tellte Mannelin ge&#x017F;chwind<lb/>
&#x017F;eine Gedanken in eine kleine Reihe, als ob es Polizei¬<lb/>
leute wären, und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t an ihre Spitze. Ohne &#x017F;ich<lb/>
zu rühren, folgte er der Er&#x017F;cheinung aufmerk&#x017F;am mit den<lb/>
Augen und &#x017F;ah, wie &#x017F;ie an der Commode ta&#x017F;tete und die<lb/>
Klappe öffnete, kurz alles that, wie ich es ge&#x017F;ehen. Als<lb/>
&#x017F;ie nun auf dem Papiere radirte, war er &#x017F;chon lei&#x017F;e auf¬<lb/>
ge&#x017F;tanden und ihr auf unhörbaren Socken nachge&#x017F;chlichen<lb/>
und &#x017F;tand hinter ihrem Rücken. Das grauenhafte buckelige<lb/>
Weibchen kratzte, &#x017F;chaute, keuchte und hu&#x017F;tete und blies<lb/>
den Staub weg, kurz war &#x017F;o ge&#x017F;chäftig wie der Teufel,<lb/>
und Mannelin guckte dem Ge&#x017F;pen&#x017F;te &#x017F;till über die Schulter,<lb/>
bis es fertig war und &#x017F;ein &#x017F;chändliches hei&#x017F;eres Gelächter<lb/>
auf&#x017F;chlug. Da &#x017F;agte er plötzlich:</p><lb/>
          <p>&#x201E;Na, Frauchen, was treiben Sie denn da?&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wie eine Schlange &#x017F;chnellte das Ge&#x017F;pen&#x017F;t empor und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0262] dicht hinter ihm an die Wand, ein altes Mütterchen ſagte vernehmlich: „Ja, ja!“ der kalte Luftzug ſtrich über ſein Geſicht, die Gardinen flatterten und die Decke flog weg. Und indem Mannelin ſich beſann, aber ganz ruhig liegen blieb, wie wenn er nichts merkte, ſah er ſchon die alte Kratt in der Mitte des Zimmers gegen die Fenſterecke zuſchlurfen, wo die Commode ſtand und der Mond ſchien, wie geſtern. Er war jetzt doch ziemlich überraſcht, und das Herz klopfte ihm bedeutend, weil er die Natur und Tragweite des Abenteuers nicht kannte. Aber wie der Jäger, von einem Thiere überraſcht, ſein Gewehrſchloß ſchnell in Ordnung bringt, ſtellte Mannelin geſchwind ſeine Gedanken in eine kleine Reihe, als ob es Polizei¬ leute wären, und ſich ſelbſt an ihre Spitze. Ohne ſich zu rühren, folgte er der Erſcheinung aufmerkſam mit den Augen und ſah, wie ſie an der Commode taſtete und die Klappe öffnete, kurz alles that, wie ich es geſehen. Als ſie nun auf dem Papiere radirte, war er ſchon leiſe auf¬ geſtanden und ihr auf unhörbaren Socken nachgeſchlichen und ſtand hinter ihrem Rücken. Das grauenhafte buckelige Weibchen kratzte, ſchaute, keuchte und huſtete und blies den Staub weg, kurz war ſo geſchäftig wie der Teufel, und Mannelin guckte dem Geſpenſte ſtill über die Schulter, bis es fertig war und ſein ſchändliches heiſeres Gelächter aufſchlug. Da ſagte er plötzlich: „Na, Frauchen, was treiben Sie denn da?“ Wie eine Schlange ſchnellte das Geſpenſt empor und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/262
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/262>, abgerufen am 15.05.2024.