Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Als nun der junge Thibaut sich in sie verliebte, be¬
ging Guillemette den Fehler, sich sein Hofmachen als
kleine Erheiterung eine Weile gefallen zu lassen, was sie
schon seiner Jugend wegen für unverfänglich hielt. Sie
ließ sich von ihm Fächer und Handschuhe tragen, spielte
und lachte mit ihm, wie wenn sie noch ein halbes Kind
wäre, und wenn er nicht von selbst in ihre Nähe kam,
rief und lockte sie ihn herbei. So oft er es möglich
machen konnte, eilte er nach Beaugency, wo sie längere
Zeit blieb, und jagte mit ihr durch Garten und Saal.
Eines Tages aber, als er ihr plötzlich zu Füßen fiel und
ihre Kniee umspannte, mußte er erfahren, daß sie ihn
lachend abschüttelte und er weiter von dem Ziele des
Herzensraubes war, als jemals. Da faßte er in jugend¬
lichem Leichtsinn den Vorsatz, ihr wenigstens das Korallen¬
herz zu stehlen, und führte ihn auch aus. Während einer
sommerlichen Nachmittagsstunde hatte sich Guillemette in
ein kühles Gartenzimmer eingeschlossen, um zu schlafen,
leider aber nicht das offene Fenster bedacht. Durch dieses
Fenster entdeckte Thibaut das in einem geflochtenen Arm¬
sessel schlafende Fräulein und stieg leise wie eine Katze
hinein. Das Herz hing an einem Sammetbändchen an
ihrem Halse und es gelang ihm, dasselbe los zu machen
und in die Tasche zu stecken, auch wieder durch das Fenster
zu entfliehen, ohne daß sie erwachte oder er von einem
Menschen gesehen wurde. Die grüne Spinne mochte in
ihrer dunkeln Kapsel noch so sehr zittern und blinkern,

Als nun der junge Thibaut ſich in ſie verliebte, be¬
ging Guillemette den Fehler, ſich ſein Hofmachen als
kleine Erheiterung eine Weile gefallen zu laſſen, was ſie
ſchon ſeiner Jugend wegen für unverfänglich hielt. Sie
ließ ſich von ihm Fächer und Handſchuhe tragen, ſpielte
und lachte mit ihm, wie wenn ſie noch ein halbes Kind
wäre, und wenn er nicht von ſelbſt in ihre Nähe kam,
rief und lockte ſie ihn herbei. So oft er es möglich
machen konnte, eilte er nach Beaugency, wo ſie längere
Zeit blieb, und jagte mit ihr durch Garten und Saal.
Eines Tages aber, als er ihr plötzlich zu Füßen fiel und
ihre Kniee umſpannte, mußte er erfahren, daß ſie ihn
lachend abſchüttelte und er weiter von dem Ziele des
Herzensraubes war, als jemals. Da faßte er in jugend¬
lichem Leichtſinn den Vorſatz, ihr wenigſtens das Korallen¬
herz zu ſtehlen, und führte ihn auch aus. Während einer
ſommerlichen Nachmittagsſtunde hatte ſich Guillemette in
ein kühles Gartenzimmer eingeſchloſſen, um zu ſchlafen,
leider aber nicht das offene Fenſter bedacht. Durch dieſes
Fenſter entdeckte Thibaut das in einem geflochtenen Arm¬
ſeſſel ſchlafende Fräulein und ſtieg leiſe wie eine Katze
hinein. Das Herz hing an einem Sammetbändchen an
ihrem Halſe und es gelang ihm, dasſelbe los zu machen
und in die Taſche zu ſtecken, auch wieder durch das Fenſter
zu entfliehen, ohne daß ſie erwachte oder er von einem
Menſchen geſehen wurde. Die grüne Spinne mochte in
ihrer dunkeln Kapſel noch ſo ſehr zittern und blinkern,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0360" n="350"/>
          <p>Als nun der junge Thibaut &#x017F;ich in &#x017F;ie verliebte, be¬<lb/>
ging Guillemette den Fehler, &#x017F;ich &#x017F;ein Hofmachen als<lb/>
kleine Erheiterung eine Weile gefallen zu la&#x017F;&#x017F;en, was &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;einer Jugend wegen für unverfänglich hielt. Sie<lb/>
ließ &#x017F;ich von ihm Fächer und Hand&#x017F;chuhe tragen, &#x017F;pielte<lb/>
und lachte mit ihm, wie wenn &#x017F;ie noch ein halbes Kind<lb/>
wäre, und wenn er nicht von &#x017F;elb&#x017F;t in ihre Nähe kam,<lb/>
rief und lockte &#x017F;ie ihn herbei. So oft er es möglich<lb/>
machen konnte, eilte er nach Beaugency, wo &#x017F;ie längere<lb/>
Zeit blieb, und jagte mit ihr durch Garten und Saal.<lb/>
Eines Tages aber, als er ihr plötzlich zu Füßen fiel und<lb/>
ihre Kniee um&#x017F;pannte, mußte er erfahren, daß &#x017F;ie ihn<lb/>
lachend ab&#x017F;chüttelte und er weiter von dem Ziele des<lb/>
Herzensraubes war, als jemals. Da faßte er in jugend¬<lb/>
lichem Leicht&#x017F;inn den Vor&#x017F;atz, ihr wenig&#x017F;tens das Korallen¬<lb/>
herz zu &#x017F;tehlen, und führte ihn auch aus. Während einer<lb/>
&#x017F;ommerlichen Nachmittags&#x017F;tunde hatte &#x017F;ich Guillemette in<lb/>
ein kühles Gartenzimmer einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, um zu &#x017F;chlafen,<lb/>
leider aber nicht das offene Fen&#x017F;ter bedacht. Durch die&#x017F;es<lb/>
Fen&#x017F;ter entdeckte Thibaut das in einem geflochtenen Arm¬<lb/>
&#x017F;e&#x017F;&#x017F;el &#x017F;chlafende Fräulein und &#x017F;tieg lei&#x017F;e wie eine Katze<lb/>
hinein. Das Herz hing an einem Sammetbändchen an<lb/>
ihrem Hal&#x017F;e und es gelang ihm, das&#x017F;elbe los zu machen<lb/>
und in die Ta&#x017F;che zu &#x017F;tecken, auch wieder durch das Fen&#x017F;ter<lb/>
zu entfliehen, ohne daß &#x017F;ie erwachte oder er von einem<lb/>
Men&#x017F;chen ge&#x017F;ehen wurde. Die grüne Spinne mochte in<lb/>
ihrer dunkeln Kap&#x017F;el noch &#x017F;o &#x017F;ehr zittern und blinkern,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[350/0360] Als nun der junge Thibaut ſich in ſie verliebte, be¬ ging Guillemette den Fehler, ſich ſein Hofmachen als kleine Erheiterung eine Weile gefallen zu laſſen, was ſie ſchon ſeiner Jugend wegen für unverfänglich hielt. Sie ließ ſich von ihm Fächer und Handſchuhe tragen, ſpielte und lachte mit ihm, wie wenn ſie noch ein halbes Kind wäre, und wenn er nicht von ſelbſt in ihre Nähe kam, rief und lockte ſie ihn herbei. So oft er es möglich machen konnte, eilte er nach Beaugency, wo ſie längere Zeit blieb, und jagte mit ihr durch Garten und Saal. Eines Tages aber, als er ihr plötzlich zu Füßen fiel und ihre Kniee umſpannte, mußte er erfahren, daß ſie ihn lachend abſchüttelte und er weiter von dem Ziele des Herzensraubes war, als jemals. Da faßte er in jugend¬ lichem Leichtſinn den Vorſatz, ihr wenigſtens das Korallen¬ herz zu ſtehlen, und führte ihn auch aus. Während einer ſommerlichen Nachmittagsſtunde hatte ſich Guillemette in ein kühles Gartenzimmer eingeſchloſſen, um zu ſchlafen, leider aber nicht das offene Fenſter bedacht. Durch dieſes Fenſter entdeckte Thibaut das in einem geflochtenen Arm¬ ſeſſel ſchlafende Fräulein und ſtieg leiſe wie eine Katze hinein. Das Herz hing an einem Sammetbändchen an ihrem Halſe und es gelang ihm, dasſelbe los zu machen und in die Taſche zu ſtecken, auch wieder durch das Fenſter zu entfliehen, ohne daß ſie erwachte oder er von einem Menſchen geſehen wurde. Die grüne Spinne mochte in ihrer dunkeln Kapſel noch ſo ſehr zittern und blinkern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/360
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/360>, abgerufen am 14.05.2024.