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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Nachdem sie noch ein Weilchen geplaudert, Reinhart
mit ungeduldigem Herzklopfen, eilte er ins Haus, den
Mantelsack zu packen, und nach dem Stalle, das Pferd
satteln zu lassen, welches sich auf der Weide rund gefressen
hatte. Er war so eilig, weil er glaubte, Zeit und Ge¬
schick damit zu beschleunigen, mochten sie bringen, was sie
wollten.

"Sie werden doch noch mit uns essen, eh' Sie reisen?"
sagte Lucie betreten, als er wieder unter den Platanen
erschien und sie dort vorfand. "Es ist nicht möglich",
antwortete Reinhart; "wenn ich heute noch zu Haus an¬
kommen will, so muß ich vor Tisch aufbrechen!"

"Ei, ist denn Ihre Fahrt schon zu Ende? Sie haben
ja kaum begonnen! Sie werden doch die schädliche Arbeit
nicht schon wieder aufnehmen wollen?"

"Gewiß nicht, mein Fräulein, ich möchte jetzt mein
Augenlicht mehr schonen, als jemals, denn die bewußte
Kur hat ihm so gut gethan, daß es undankbar wäre, es
wieder zu gefährden!"

"Sie werden natürlich auf allen den bewußten
Stationen Halt machen, über welche sie gereist sind?"

"Dann würde ich nicht weit kommen! Ich denke viel¬
mehr den andern kürzern Weg von hier aus zu nehmen,
der über die Althäuser Brücke führt."

Lucie schien mit diesem unbedeutenden Gespräche zu¬
frieden zu sein; sie entließ den berittenen Naturforscher
in freundlicher Weise, und er zog so ernst seines Weges,

Nachdem ſie noch ein Weilchen geplaudert, Reinhart
mit ungeduldigem Herzklopfen, eilte er ins Haus, den
Mantelſack zu packen, und nach dem Stalle, das Pferd
ſatteln zu laſſen, welches ſich auf der Weide rund gefreſſen
hatte. Er war ſo eilig, weil er glaubte, Zeit und Ge¬
ſchick damit zu beſchleunigen, mochten ſie bringen, was ſie
wollten.

„Sie werden doch noch mit uns eſſen, eh' Sie reiſen?“
ſagte Lucie betreten, als er wieder unter den Platanen
erſchien und ſie dort vorfand. „Es iſt nicht möglich“,
antwortete Reinhart; „wenn ich heute noch zu Haus an¬
kommen will, ſo muß ich vor Tiſch aufbrechen!“

„Ei, iſt denn Ihre Fahrt ſchon zu Ende? Sie haben
ja kaum begonnen! Sie werden doch die ſchädliche Arbeit
nicht ſchon wieder aufnehmen wollen?“

„Gewiß nicht, mein Fräulein, ich möchte jetzt mein
Augenlicht mehr ſchonen, als jemals, denn die bewußte
Kur hat ihm ſo gut gethan, daß es undankbar wäre, es
wieder zu gefährden!“

„Sie werden natürlich auf allen den bewußten
Stationen Halt machen, über welche ſie gereiſt ſind?“

„Dann würde ich nicht weit kommen! Ich denke viel¬
mehr den andern kürzern Weg von hier aus zu nehmen,
der über die Althäuſer Brücke führt.“

Lucie ſchien mit dieſem unbedeutenden Geſpräche zu¬
frieden zu ſein; ſie entließ den berittenen Naturforſcher
in freundlicher Weiſe, und er zog ſo ernſt ſeines Weges,

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[370/0380] Nachdem ſie noch ein Weilchen geplaudert, Reinhart mit ungeduldigem Herzklopfen, eilte er ins Haus, den Mantelſack zu packen, und nach dem Stalle, das Pferd ſatteln zu laſſen, welches ſich auf der Weide rund gefreſſen hatte. Er war ſo eilig, weil er glaubte, Zeit und Ge¬ ſchick damit zu beſchleunigen, mochten ſie bringen, was ſie wollten. „Sie werden doch noch mit uns eſſen, eh' Sie reiſen?“ ſagte Lucie betreten, als er wieder unter den Platanen erſchien und ſie dort vorfand. „Es iſt nicht möglich“, antwortete Reinhart; „wenn ich heute noch zu Haus an¬ kommen will, ſo muß ich vor Tiſch aufbrechen!“ „Ei, iſt denn Ihre Fahrt ſchon zu Ende? Sie haben ja kaum begonnen! Sie werden doch die ſchädliche Arbeit nicht ſchon wieder aufnehmen wollen?“ „Gewiß nicht, mein Fräulein, ich möchte jetzt mein Augenlicht mehr ſchonen, als jemals, denn die bewußte Kur hat ihm ſo gut gethan, daß es undankbar wäre, es wieder zu gefährden!“ „Sie werden natürlich auf allen den bewußten Stationen Halt machen, über welche ſie gereiſt ſind?“ „Dann würde ich nicht weit kommen! Ich denke viel¬ mehr den andern kürzern Weg von hier aus zu nehmen, der über die Althäuſer Brücke führt.“ Lucie ſchien mit dieſem unbedeutenden Geſpräche zu¬ frieden zu ſein; ſie entließ den berittenen Naturforſcher in freundlicher Weiſe, und er zog ſo ernſt ſeines Weges,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/380>, abgerufen am 29.04.2024.