Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

hauptstädtischen Lebens überdrüssig. Das Soldatenleben, nachdem er seine Lehrzeit daran durchgemacht hatte, kam ihm, der an rüstige Arbeit, an Zweck und Erwerb gewöhnt war, wie eine glänzende Spielerei vor. Seine jungen kaufmännischen Freunde waren ihm durch ihre kleinlichen Geldgespräche und theils auch durch die Gemeinheit ihres Lebens und Genießens geradezu widerlich. Mit Adelaide aber hatte er nun etwa hundertmal die rheinischen Volkslieder und eben so oft die Adelaide abgesungen und den Thomas Thyrnau durchgesprochen. In diesem Hause lieh er der Unterhaltung seine eigne Wärme; daher war seine Seele jetzt immer kalt und müde, wenn er Abends wegging. Er mißte fast überall neben dem Reiz die Kraft, und wenigstens in keinem der Kreise, die ihm offen standen, fand er die Tiefe und Unendlichkeit des Gemüthes, ohne welche ein kraftvolles Jünglingsherz sich unglücklich fühlt. Die schweren Steinmassen der prächtigen Stadt im scharfen Strahl der heißern nordischen Sommersonne lagen wie Felsblöcke auf ihm, und schon jetzt am Ende des ersten Jahres dehnte sich das zweite, das er hier noch zu verleben hatte, farblos und gestaltlos vor ihm aus. Hatte er früher zu hastig den Kelch der ihm so neuen gesellschaftlichen Genüsse geleert, so versank er jetzt in ein einsames Verzehren seiner Kraft. Liebe war nicht in sein Herz gekommen, und mit seinem ernüchterten Blicke erkannte er, daß kein unter diesen Umgebungen erwachsenes Weib ihm und sich selber zum Frieden in

hauptstädtischen Lebens überdrüssig. Das Soldatenleben, nachdem er seine Lehrzeit daran durchgemacht hatte, kam ihm, der an rüstige Arbeit, an Zweck und Erwerb gewöhnt war, wie eine glänzende Spielerei vor. Seine jungen kaufmännischen Freunde waren ihm durch ihre kleinlichen Geldgespräche und theils auch durch die Gemeinheit ihres Lebens und Genießens geradezu widerlich. Mit Adelaide aber hatte er nun etwa hundertmal die rheinischen Volkslieder und eben so oft die Adelaide abgesungen und den Thomas Thyrnau durchgesprochen. In diesem Hause lieh er der Unterhaltung seine eigne Wärme; daher war seine Seele jetzt immer kalt und müde, wenn er Abends wegging. Er mißte fast überall neben dem Reiz die Kraft, und wenigstens in keinem der Kreise, die ihm offen standen, fand er die Tiefe und Unendlichkeit des Gemüthes, ohne welche ein kraftvolles Jünglingsherz sich unglücklich fühlt. Die schweren Steinmassen der prächtigen Stadt im scharfen Strahl der heißern nordischen Sommersonne lagen wie Felsblöcke auf ihm, und schon jetzt am Ende des ersten Jahres dehnte sich das zweite, das er hier noch zu verleben hatte, farblos und gestaltlos vor ihm aus. Hatte er früher zu hastig den Kelch der ihm so neuen gesellschaftlichen Genüsse geleert, so versank er jetzt in ein einsames Verzehren seiner Kraft. Liebe war nicht in sein Herz gekommen, und mit seinem ernüchterten Blicke erkannte er, daß kein unter diesen Umgebungen erwachsenes Weib ihm und sich selber zum Frieden in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0045"/>
hauptstädtischen Lebens überdrüssig. Das     Soldatenleben, nachdem er seine Lehrzeit daran durchgemacht hatte, kam ihm, der an rüstige     Arbeit, an Zweck und Erwerb gewöhnt war, wie eine glänzende Spielerei vor. Seine jungen     kaufmännischen Freunde waren ihm durch ihre kleinlichen Geldgespräche und theils auch durch die     Gemeinheit ihres Lebens und Genießens geradezu widerlich. Mit Adelaide aber hatte er nun etwa     hundertmal die rheinischen Volkslieder und eben so oft die Adelaide abgesungen und den Thomas     Thyrnau durchgesprochen. In diesem Hause lieh er der Unterhaltung seine eigne Wärme; daher war     seine Seele jetzt immer kalt und müde, wenn er Abends wegging. Er mißte fast überall neben dem     Reiz die Kraft, und wenigstens in keinem der Kreise, die ihm offen standen, fand er die Tiefe     und Unendlichkeit des Gemüthes, ohne welche ein kraftvolles Jünglingsherz sich unglücklich     fühlt. Die schweren Steinmassen der prächtigen Stadt im scharfen Strahl der heißern nordischen     Sommersonne lagen wie Felsblöcke auf ihm, und schon jetzt am Ende des ersten Jahres dehnte sich     das zweite, das er hier noch zu verleben hatte, farblos und gestaltlos vor ihm aus. Hatte er     früher zu hastig den Kelch der ihm so neuen gesellschaftlichen Genüsse geleert, so versank er     jetzt in ein einsames Verzehren seiner Kraft. Liebe war nicht in sein Herz gekommen, und mit     seinem ernüchterten Blicke erkannte er, daß kein unter diesen Umgebungen erwachsenes Weib ihm     und sich selber zum Frieden in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0045] hauptstädtischen Lebens überdrüssig. Das Soldatenleben, nachdem er seine Lehrzeit daran durchgemacht hatte, kam ihm, der an rüstige Arbeit, an Zweck und Erwerb gewöhnt war, wie eine glänzende Spielerei vor. Seine jungen kaufmännischen Freunde waren ihm durch ihre kleinlichen Geldgespräche und theils auch durch die Gemeinheit ihres Lebens und Genießens geradezu widerlich. Mit Adelaide aber hatte er nun etwa hundertmal die rheinischen Volkslieder und eben so oft die Adelaide abgesungen und den Thomas Thyrnau durchgesprochen. In diesem Hause lieh er der Unterhaltung seine eigne Wärme; daher war seine Seele jetzt immer kalt und müde, wenn er Abends wegging. Er mißte fast überall neben dem Reiz die Kraft, und wenigstens in keinem der Kreise, die ihm offen standen, fand er die Tiefe und Unendlichkeit des Gemüthes, ohne welche ein kraftvolles Jünglingsherz sich unglücklich fühlt. Die schweren Steinmassen der prächtigen Stadt im scharfen Strahl der heißern nordischen Sommersonne lagen wie Felsblöcke auf ihm, und schon jetzt am Ende des ersten Jahres dehnte sich das zweite, das er hier noch zu verleben hatte, farblos und gestaltlos vor ihm aus. Hatte er früher zu hastig den Kelch der ihm so neuen gesellschaftlichen Genüsse geleert, so versank er jetzt in ein einsames Verzehren seiner Kraft. Liebe war nicht in sein Herz gekommen, und mit seinem ernüchterten Blicke erkannte er, daß kein unter diesen Umgebungen erwachsenes Weib ihm und sich selber zum Frieden in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/45
Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/45>, abgerufen am 26.04.2024.