Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

da und suchte melancholisch den Gottesacker
auf, wo sie die Ophelia hingetragen hatten.
O hätte ich nur mindestens einen Laertes auf-
finden können, um mit ihm an dem Grabe
mich herumzuschlagen, denn ich hatte aus dem
Tollhause einen verstärkten Haß gegen alle
Vernünftige mitgebracht, die mit ihren plat-
ten nichtssagenden Physiognomien, jezt wieder
um und neben mir wandelten.

Ein Reicher und ein Bettler haben den
Vorzug vor anderen gewöhnlichen Menschenkin-
dern, daß sie ihrem Hange zum Reisen vollen
Lauf lassen dürfen. Der Reiche schließt sich die
Herrlichkeiten der Erde mit dem goldenen
Schlüssel in seiner Hand auf; der Arme hat
ein Freibillet für die ganze Natur, und er
kann die höchsten und schönsten Wohnungen
nach Belieben beziehen; heute den Aetna,
morgen die Fingalsgrotte; in dieser Woche
den Sommeraufenthalt des Weisen am Gen-
fersee, und in der folgenden die köstliche kry-

da und ſuchte melancholiſch den Gottesacker
auf, wo ſie die Ophelia hingetragen hatten.
O haͤtte ich nur mindeſtens einen Laertes auf-
finden koͤnnen, um mit ihm an dem Grabe
mich herumzuſchlagen, denn ich hatte aus dem
Tollhauſe einen verſtaͤrkten Haß gegen alle
Vernuͤnftige mitgebracht, die mit ihren plat-
ten nichtsſagenden Phyſiognomien, jezt wieder
um und neben mir wandelten.

Ein Reicher und ein Bettler haben den
Vorzug vor anderen gewoͤhnlichen Menſchenkin-
dern, daß ſie ihrem Hange zum Reiſen vollen
Lauf laſſen duͤrfen. Der Reiche ſchließt ſich die
Herrlichkeiten der Erde mit dem goldenen
Schluͤſſel in ſeiner Hand auf; der Arme hat
ein Freibillet fuͤr die ganze Natur, und er
kann die hoͤchſten und ſchoͤnſten Wohnungen
nach Belieben beziehen; heute den Aetna,
morgen die Fingalsgrotte; in dieſer Woche
den Sommeraufenthalt des Weiſen am Gen-
ferſee, und in der folgenden die koͤſtliche kry-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0258" n="256"/>
da und &#x017F;uchte melancholi&#x017F;ch den Gottesacker<lb/>
auf, wo &#x017F;ie die Ophelia hingetragen hatten.<lb/>
O ha&#x0364;tte ich nur minde&#x017F;tens einen Laertes auf-<lb/>
finden ko&#x0364;nnen, um mit ihm an dem Grabe<lb/>
mich herumzu&#x017F;chlagen, denn ich hatte aus dem<lb/>
Tollhau&#x017F;e einen ver&#x017F;ta&#x0364;rkten Haß gegen alle<lb/>
Vernu&#x0364;nftige mitgebracht, die mit ihren plat-<lb/>
ten nichts&#x017F;agenden Phy&#x017F;iognomien, jezt wieder<lb/>
um und neben mir wandelten.</p><lb/>
        <p>Ein Reicher und ein Bettler haben den<lb/>
Vorzug vor anderen gewo&#x0364;hnlichen Men&#x017F;chenkin-<lb/>
dern, daß &#x017F;ie ihrem Hange zum Rei&#x017F;en vollen<lb/>
Lauf la&#x017F;&#x017F;en du&#x0364;rfen. Der Reiche &#x017F;chließt &#x017F;ich die<lb/>
Herrlichkeiten der Erde mit dem goldenen<lb/>
Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el in &#x017F;einer Hand auf; der Arme hat<lb/>
ein Freibillet fu&#x0364;r die ganze Natur, und er<lb/>
kann die ho&#x0364;ch&#x017F;ten und &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Wohnungen<lb/>
nach Belieben beziehen; heute den Aetna,<lb/>
morgen die Fingalsgrotte; in die&#x017F;er Woche<lb/>
den Sommeraufenthalt des Wei&#x017F;en am Gen-<lb/>
fer&#x017F;ee, und in der folgenden die ko&#x0364;&#x017F;tliche kry-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[256/0258] da und ſuchte melancholiſch den Gottesacker auf, wo ſie die Ophelia hingetragen hatten. O haͤtte ich nur mindeſtens einen Laertes auf- finden koͤnnen, um mit ihm an dem Grabe mich herumzuſchlagen, denn ich hatte aus dem Tollhauſe einen verſtaͤrkten Haß gegen alle Vernuͤnftige mitgebracht, die mit ihren plat- ten nichtsſagenden Phyſiognomien, jezt wieder um und neben mir wandelten. Ein Reicher und ein Bettler haben den Vorzug vor anderen gewoͤhnlichen Menſchenkin- dern, daß ſie ihrem Hange zum Reiſen vollen Lauf laſſen duͤrfen. Der Reiche ſchließt ſich die Herrlichkeiten der Erde mit dem goldenen Schluͤſſel in ſeiner Hand auf; der Arme hat ein Freibillet fuͤr die ganze Natur, und er kann die hoͤchſten und ſchoͤnſten Wohnungen nach Belieben beziehen; heute den Aetna, morgen die Fingalsgrotte; in dieſer Woche den Sommeraufenthalt des Weiſen am Gen- ferſee, und in der folgenden die koͤſtliche kry-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/258
Zitationshilfe: Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/258>, abgerufen am 26.04.2024.