Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805.

Bild:
<< vorherige Seite

"doch immer ein Uebriges abwerfen. Als ich
"noch in der Nacht poesirte, wie du, mußte
"ich hungern, wie du, und sang tauben Oh-
"ren; das letzte thue ich zwar noch jetzt, aber
"man bezahlt mich dafür. O Freund Poet,
"wer jezt leben will, der darf nicht dichten!
"Ist dir aber das Singen angebohren, und
"kannst du es durchaus nicht unterlassen, nun
"so werde Nachtwächter, wie ich, das ist noch
"der einzige solide Posten wo es bezahlt wird,
"und man dich nicht dabei verhungern läßt.--
"Gute Nacht, Bruder Poet."

Ich blickte noch einmal hinauf, und ge-
wahrte seinen Schatten an der Wand, er war
in einer tragischen Stellung begriffen, die eine
Hand in den Haaren, die andre hielt das
Blatt, von dem er wahrscheinlich seine Un-
sterblichkeit sich vorrezitirte.

Ich stieß ins Horn, rief ihm laut die Zeit
zu, und ging meiner Wege.--


„doch immer ein Uebriges abwerfen. Als ich
„noch in der Nacht poeſirte, wie du, mußte
„ich hungern, wie du, und ſang tauben Oh-
„ren; das letzte thue ich zwar noch jetzt, aber
„man bezahlt mich dafuͤr. O Freund Poet,
„wer jezt leben will, der darf nicht dichten!
„Iſt dir aber das Singen angebohren, und
„kannſt du es durchaus nicht unterlaſſen, nun
„ſo werde Nachtwaͤchter, wie ich, das iſt noch
„der einzige ſolide Poſten wo es bezahlt wird,
„und man dich nicht dabei verhungern laͤßt.—
„Gute Nacht, Bruder Poet.“

Ich blickte noch einmal hinauf, und ge-
wahrte ſeinen Schatten an der Wand, er war
in einer tragiſchen Stellung begriffen, die eine
Hand in den Haaren, die andre hielt das
Blatt, von dem er wahrſcheinlich ſeine Un-
ſterblichkeit ſich vorrezitirte.

Ich ſtieß ins Horn, rief ihm laut die Zeit
zu, und ging meiner Wege.—


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0006" n="4"/>
&#x201E;doch immer ein Uebriges abwerfen. Als ich<lb/>
&#x201E;noch in der Nacht poe&#x017F;irte, wie du, mußte<lb/>
&#x201E;ich hungern, wie du, und &#x017F;ang tauben Oh-<lb/>
&#x201E;ren; das letzte thue ich zwar noch jetzt, aber<lb/>
&#x201E;man bezahlt mich dafu&#x0364;r. O Freund Poet,<lb/>
&#x201E;wer jezt leben will, der darf nicht dichten!<lb/>
&#x201E;I&#x017F;t dir aber das Singen angebohren, und<lb/>
&#x201E;kann&#x017F;t du es durchaus nicht unterla&#x017F;&#x017F;en, nun<lb/>
&#x201E;&#x017F;o werde Nachtwa&#x0364;chter, wie ich, das i&#x017F;t noch<lb/>
&#x201E;der einzige &#x017F;olide Po&#x017F;ten wo es bezahlt wird,<lb/>
&#x201E;und man dich nicht dabei verhungern la&#x0364;ßt.&#x2014;<lb/>
&#x201E;Gute Nacht, Bruder Poet.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ich blickte noch einmal hinauf, und ge-<lb/>
wahrte &#x017F;einen Schatten an der Wand, er war<lb/>
in einer tragi&#x017F;chen Stellung begriffen, die eine<lb/>
Hand in den Haaren, die andre hielt das<lb/>
Blatt, von dem er wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;eine Un-<lb/>
&#x017F;terblichkeit &#x017F;ich vorrezitirte.</p><lb/>
        <p>Ich &#x017F;tieß ins Horn, rief ihm laut die Zeit<lb/>
zu, und ging meiner Wege.&#x2014;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0006] „doch immer ein Uebriges abwerfen. Als ich „noch in der Nacht poeſirte, wie du, mußte „ich hungern, wie du, und ſang tauben Oh- „ren; das letzte thue ich zwar noch jetzt, aber „man bezahlt mich dafuͤr. O Freund Poet, „wer jezt leben will, der darf nicht dichten! „Iſt dir aber das Singen angebohren, und „kannſt du es durchaus nicht unterlaſſen, nun „ſo werde Nachtwaͤchter, wie ich, das iſt noch „der einzige ſolide Poſten wo es bezahlt wird, „und man dich nicht dabei verhungern laͤßt.— „Gute Nacht, Bruder Poet.“ Ich blickte noch einmal hinauf, und ge- wahrte ſeinen Schatten an der Wand, er war in einer tragiſchen Stellung begriffen, die eine Hand in den Haaren, die andre hielt das Blatt, von dem er wahrſcheinlich ſeine Un- ſterblichkeit ſich vorrezitirte. Ich ſtieß ins Horn, rief ihm laut die Zeit zu, und ging meiner Wege.—

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/6
Zitationshilfe: Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/6>, abgerufen am 28.04.2024.