Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.

Bild:
<< vorherige Seite

pko_051.001
Freytag: "Die Journalisten"; G. Hauptmann: "Der Biberpelz"; pko_051.002
C. Sternheim: "Die Hose").

pko_051.003
Wird der Spott zum Spaß, der nicht ironische oder satirische Weltbetrachtung pko_051.004
bieten, sondern nur lächerliche Personen und Situationen pko_051.005
vorführen will, so ergibt sich der Schwank, und bei Übertreibung und pko_051.006
karikierender Verzerrung des Lächerlichen die Posse.

pko_051.007
Auch nach den Stoffen und Gehalten lassen sich Unterarten des pko_051.008
Dramas scheiden: das Sagen- und Märchendrama, das historische und pko_051.009
das Zeitdrama, das bürgerliche und das soziale Drama; das Familien- pko_051.010
und das Volksstück; das Zustands-, Milieu- und das Schicksalsdrama.

pko_051.011
Sprachformal bieten sich dem Drama alle Möglichkeiten; es kann in pko_051.012
schlichter oder rhythmischer Prosa abgefaßt sein, in freien oder strengen pko_051.013
Versen, in Versen jeden Metrums vom knappen Knittelvers bis zu pko_051.014
weitbauschigen Trimetern und Tetrametern; Bodmer wollte sogar den pko_051.015
Hexameter verwenden, Tieck und Kotzebue haben das zuweilen wirklich pko_051.016
getan; deutsche Romantiker gebrauchten die schwierigsten romanischen pko_051.017
Strophengebäude (Sonette und Stanzen), und am Beginne des pko_051.018
20. Jahrhunderts schrieb der Neuromantiker Eduard Stucken einen pko_051.019
ganzen Dramenzyklus in kunstvoll mit Mittel- und Endreim verzierten pko_051.020
Viertaktern.

pko_051.021
Verbindet sich das Wort-Drama mit der Tonkunst und überläßt pko_051.022
dieser die Führung, so entsteht das Musik-Drama:

Trauer- und Schauspiel pko_051.023
werden zur ernsten, Komödie und Lustspiel zur komischen Oper1), pko_051.024
Schwank und Posse zur Operette2); behält der Dichter die Oberhand pko_051.025
über den Komponisten, der nur einzelne lyrische Einlagen vertont, so pko_051.026
ergibt sich das Singspiel.

pko_051.027
Verzichtet der Bühnenvorgang auf jegliche begleitende Rede, so wandelt pko_051.028
sich das Drama zur Pantomime3), dem völligen Widerpart des nur pko_051.029
in Wortschällen wesenden Hörspiels; sie überschreitet den Umkreis der pko_051.030
Sprachkunst (denn das Textbuch der Pantomime ist ja nur bühnentechnischer pko_051.031
Behelf, nicht ästhetischer Selbstzweck) und hiermit auch den pko_051.032
Umkreis der Poetik.

1) pko_051.033
ital. opera (sc. in musica) "(Musik-)Werk".
2) pko_051.034
ital. operetta "kleine Oper".
3) pko_051.035
griech. pantomimos "alles nachahmend".

pko_051.001
Freytag: „Die Journalisten“; G. Hauptmann: „Der Biberpelz“; pko_051.002
C. Sternheim: „Die Hose“).

pko_051.003
Wird der Spott zum Spaß, der nicht ironische oder satirische Weltbetrachtung pko_051.004
bieten, sondern nur lächerliche Personen und Situationen pko_051.005
vorführen will, so ergibt sich der Schwank, und bei Übertreibung und pko_051.006
karikierender Verzerrung des Lächerlichen die Posse.

pko_051.007
Auch nach den Stoffen und Gehalten lassen sich Unterarten des pko_051.008
Dramas scheiden: das Sagen- und Märchendrama, das historische und pko_051.009
das Zeitdrama, das bürgerliche und das soziale Drama; das Familien- pko_051.010
und das Volksstück; das Zustands-, Milieu- und das Schicksalsdrama.

pko_051.011
Sprachformal bieten sich dem Drama alle Möglichkeiten; es kann in pko_051.012
schlichter oder rhythmischer Prosa abgefaßt sein, in freien oder strengen pko_051.013
Versen, in Versen jeden Metrums vom knappen Knittelvers bis zu pko_051.014
weitbauschigen Trimetern und Tetrametern; Bodmer wollte sogar den pko_051.015
Hexameter verwenden, Tieck und Kotzebue haben das zuweilen wirklich pko_051.016
getan; deutsche Romantiker gebrauchten die schwierigsten romanischen pko_051.017
Strophengebäude (Sonette und Stanzen), und am Beginne des pko_051.018
20. Jahrhunderts schrieb der Neuromantiker Eduard Stucken einen pko_051.019
ganzen Dramenzyklus in kunstvoll mit Mittel- und Endreim verzierten pko_051.020
Viertaktern.

pko_051.021
Verbindet sich das Wort-Drama mit der Tonkunst und überläßt pko_051.022
dieser die Führung, so entsteht das Musik-Drama:

Trauer- und Schauspiel pko_051.023
werden zur ernsten, Komödie und Lustspiel zur komischen Oper1), pko_051.024
Schwank und Posse zur Operette2); behält der Dichter die Oberhand pko_051.025
über den Komponisten, der nur einzelne lyrische Einlagen vertont, so pko_051.026
ergibt sich das Singspiel.

pko_051.027
Verzichtet der Bühnenvorgang auf jegliche begleitende Rede, so wandelt pko_051.028
sich das Drama zur Pantomime3), dem völligen Widerpart des nur pko_051.029
in Wortschällen wesenden Hörspiels; sie überschreitet den Umkreis der pko_051.030
Sprachkunst (denn das Textbuch der Pantomime ist ja nur bühnentechnischer pko_051.031
Behelf, nicht ästhetischer Selbstzweck) und hiermit auch den pko_051.032
Umkreis der Poetik.

1) pko_051.033
ital. ópera (sc. in musica) „(Musik-)Werk“.
2) pko_051.034
ital. operétta „kleine Oper“.
3) pko_051.035
griech. pantómimos „alles nachahmend“.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0055" n="51"/><lb n="pko_051.001"/>
Freytag: &#x201E;Die Journalisten&#x201C;; G. Hauptmann: &#x201E;Der Biberpelz&#x201C;; <lb n="pko_051.002"/>
C. Sternheim: &#x201E;Die Hose&#x201C;).</p>
                <p><lb n="pko_051.003"/>
Wird der Spott zum Spaß, der nicht ironische oder satirische Weltbetrachtung <lb n="pko_051.004"/>
bieten, sondern nur lächerliche Personen und Situationen <lb n="pko_051.005"/>
vorführen will, so ergibt sich der <hi rendition="#i">Schwank,</hi> und bei Übertreibung und <lb n="pko_051.006"/>
karikierender Verzerrung des Lächerlichen die <hi rendition="#i">Posse.</hi></p>
                <p><lb n="pko_051.007"/>
Auch nach den Stoffen und Gehalten lassen sich Unterarten des <lb n="pko_051.008"/>
Dramas scheiden: das Sagen- und Märchendrama, das historische und <lb n="pko_051.009"/>
das Zeitdrama, das bürgerliche und das soziale Drama; das Familien- <lb n="pko_051.010"/>
und das Volksstück; das Zustands-, Milieu- und das Schicksalsdrama.</p>
                <p><lb n="pko_051.011"/>
Sprachformal bieten sich dem Drama alle Möglichkeiten; es kann in <lb n="pko_051.012"/>
schlichter oder rhythmischer Prosa abgefaßt sein, in freien oder strengen <lb n="pko_051.013"/>
Versen, in Versen jeden Metrums vom knappen Knittelvers bis zu <lb n="pko_051.014"/>
weitbauschigen Trimetern und Tetrametern; Bodmer wollte sogar den <lb n="pko_051.015"/>
Hexameter verwenden, Tieck und Kotzebue haben das zuweilen wirklich <lb n="pko_051.016"/>
getan; deutsche Romantiker gebrauchten die schwierigsten romanischen <lb n="pko_051.017"/>
Strophengebäude (Sonette und Stanzen), und am Beginne des <lb n="pko_051.018"/>
20. Jahrhunderts schrieb der Neuromantiker Eduard Stucken einen <lb n="pko_051.019"/>
ganzen Dramenzyklus in kunstvoll mit Mittel- und Endreim verzierten <lb n="pko_051.020"/>
Viertaktern.</p>
              </div>
              <div n="5">
                <head><lb n="pko_051.021"/>
Verbindet sich das Wort-Drama mit der Tonkunst und überläßt <lb n="pko_051.022"/>
dieser die Führung, so entsteht das <hi rendition="#i">Musik-Drama:</hi></head>
                <p>Trauer- und Schauspiel <lb n="pko_051.023"/>
werden zur ernsten, Komödie und Lustspiel zur komischen <hi rendition="#i">Oper</hi><note xml:id="PKO_051_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_051.033"/>
ital. ópera (sc. in musica) &#x201E;(Musik-)Werk&#x201C;.</note>, <lb n="pko_051.024"/>
Schwank und Posse zur <hi rendition="#i">Operette</hi><note xml:id="PKO_051_2" place="foot" n="2)"><lb n="pko_051.034"/>
ital. operétta &#x201E;kleine Oper&#x201C;.</note>; behält der Dichter die Oberhand <lb n="pko_051.025"/>
über den Komponisten, der nur einzelne lyrische Einlagen vertont, so <lb n="pko_051.026"/>
ergibt sich das <hi rendition="#i">Singspiel.</hi></p>
                <p><lb n="pko_051.027"/>
Verzichtet der Bühnenvorgang auf jegliche begleitende Rede, so wandelt <lb n="pko_051.028"/>
sich das Drama zur <hi rendition="#i">Pantomime</hi><note xml:id="PKO_051_3" place="foot" n="3)"><lb n="pko_051.035"/>
griech. pantómimos &#x201E;alles nachahmend&#x201C;.</note>, dem völligen Widerpart des nur <lb n="pko_051.029"/>
in Wortschällen wesenden Hörspiels; sie überschreitet den Umkreis der <lb n="pko_051.030"/>
Sprachkunst (denn das Textbuch der Pantomime ist ja nur bühnentechnischer <lb n="pko_051.031"/>
Behelf, nicht ästhetischer Selbstzweck) und hiermit auch den <lb n="pko_051.032"/>
Umkreis der Poetik.</p>
                <p/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0055] pko_051.001 Freytag: „Die Journalisten“; G. Hauptmann: „Der Biberpelz“; pko_051.002 C. Sternheim: „Die Hose“). pko_051.003 Wird der Spott zum Spaß, der nicht ironische oder satirische Weltbetrachtung pko_051.004 bieten, sondern nur lächerliche Personen und Situationen pko_051.005 vorführen will, so ergibt sich der Schwank, und bei Übertreibung und pko_051.006 karikierender Verzerrung des Lächerlichen die Posse. pko_051.007 Auch nach den Stoffen und Gehalten lassen sich Unterarten des pko_051.008 Dramas scheiden: das Sagen- und Märchendrama, das historische und pko_051.009 das Zeitdrama, das bürgerliche und das soziale Drama; das Familien- pko_051.010 und das Volksstück; das Zustands-, Milieu- und das Schicksalsdrama. pko_051.011 Sprachformal bieten sich dem Drama alle Möglichkeiten; es kann in pko_051.012 schlichter oder rhythmischer Prosa abgefaßt sein, in freien oder strengen pko_051.013 Versen, in Versen jeden Metrums vom knappen Knittelvers bis zu pko_051.014 weitbauschigen Trimetern und Tetrametern; Bodmer wollte sogar den pko_051.015 Hexameter verwenden, Tieck und Kotzebue haben das zuweilen wirklich pko_051.016 getan; deutsche Romantiker gebrauchten die schwierigsten romanischen pko_051.017 Strophengebäude (Sonette und Stanzen), und am Beginne des pko_051.018 20. Jahrhunderts schrieb der Neuromantiker Eduard Stucken einen pko_051.019 ganzen Dramenzyklus in kunstvoll mit Mittel- und Endreim verzierten pko_051.020 Viertaktern. pko_051.021 Verbindet sich das Wort-Drama mit der Tonkunst und überläßt pko_051.022 dieser die Führung, so entsteht das Musik-Drama:Trauer- und Schauspiel pko_051.023 werden zur ernsten, Komödie und Lustspiel zur komischen Oper 1), pko_051.024 Schwank und Posse zur Operette 2); behält der Dichter die Oberhand pko_051.025 über den Komponisten, der nur einzelne lyrische Einlagen vertont, so pko_051.026 ergibt sich das Singspiel. pko_051.027 Verzichtet der Bühnenvorgang auf jegliche begleitende Rede, so wandelt pko_051.028 sich das Drama zur Pantomime 3), dem völligen Widerpart des nur pko_051.029 in Wortschällen wesenden Hörspiels; sie überschreitet den Umkreis der pko_051.030 Sprachkunst (denn das Textbuch der Pantomime ist ja nur bühnentechnischer pko_051.031 Behelf, nicht ästhetischer Selbstzweck) und hiermit auch den pko_051.032 Umkreis der Poetik. 1) pko_051.033 ital. ópera (sc. in musica) „(Musik-)Werk“. 2) pko_051.034 ital. operétta „kleine Oper“. 3) pko_051.035 griech. pantómimos „alles nachahmend“.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/55
Zitationshilfe: Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/55>, abgerufen am 05.05.2024.