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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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Man wird sich der Einsicht nicht verschliessen können, dass die
aus unseren Versuchen abgeleiteten Beiträge zur Würdigung der in-
dividuellen Differenzen mehr den Charakter von Anregungen, als von
wirklichen Erkenntnissen besitzen. Auf Schritt und Tritt begegnen
uns Schwierigkeiten und Zweifel, die wir bei der Unvollkommenheit
unseres für diese Zwecke nicht ausreichenden Materiales nicht zu lösen
vermögen. Ich betrachte es aber schon als einen Vortheil, wenn
gerade durch die Unsicherheit unserer Ergebnisse wenigstens die Noth-
wendigkeit eines sehr gründlichen und vorsichtigen Arbeitens
auf diesem Gebiete dargethan wird. Nur die peinlichste Pedanterie kann
uns hier vor Oberflächlichkeit und voreiligen Schlussfolgerungen be-
wahren. Gerade diese Erkenntniss aber ist immer ein Zeichen dafür,
dass man wenigstens beginnt, in das Wesen einer Frage etwas tiefer
einzudringen. Ueberall, wo wir Lebensvorgänge untersuchen, pflegen
wir zunächst mit unsäglich grob schematischen Vorstellungen an die-
selben heranzutreten. Die hergebrachten "Associationsgesetze", die
"vier Temperamente", die Lehre von den "Sprachcentren" und "Asso-
ciationsbahnen" sind auf unserem Gebiete nur allzu treffende Beweise
dafür aus alter und neuester Zeit. Es sind die grossen Farbenflächen
auf Michelangelo's jüngstem Gericht, die uns zunächst in's Auge fallen.
Erst allmählich, bei mühsamem und eingehendem Studium, entdecken
wir alle die zahllosen Einzelheiten, aus denen sich das Ganze zusammen-
setzt, die mannigfaltige Gliederung der Contouren und Farbentöne
auf jedem Quadratzoll. Wir erkennen den unendlichen Reichthum an
Gestaltungen, und es kommt der Augenblick, in welchem wir daran
verzweifeln, uns durch diese verwirrende Mannigfaltigkeit hindurch-
zuringen. Endlich aber, wenn uns jede Figur vertraut geworden ist,
wenn wir an den verschiedensten Stellen die inneren Beziehungen der
einzelnen Theile zu einander erfasst haben, dann eröffnet sich uns
nach und nach das wahre, tiefere Verständniss des ganzen grossen
Werkes, und aus dem verwickelten Zusammenhange einer Ueber-
fülle von Formen und Farben heraus tritt lebendig und greifbar die
gewaltige einheitliche Idee, die das Ganze beseelt.

Bevor wir auf unserem Gebiete bis zu diesem Punkte gelangen, be-
darf es noch langer, unermüdlicher, sorgfältiger Einzelarbeit. Einiges
Detail haben wir herbeischaffen können, und an manchen Punkten
beginnen wir vielleicht auch die Beziehungen dieser oder jener Er-
scheinungen unter einander zu ahnen. Die aus den Versuchen er-
schlossene Mannigfaltigkeit der centralen Wirkungen unserer Arznei-
mittel hat gezeigt, dass wir hier wol auf dem richtigen Wege sind,

Kraepelin, Beeinflussung. 17

Man wird sich der Einsicht nicht verschliessen können, dass die
aus unseren Versuchen abgeleiteten Beiträge zur Würdigung der in-
dividuellen Differenzen mehr den Charakter von Anregungen, als von
wirklichen Erkenntnissen besitzen. Auf Schritt und Tritt begegnen
uns Schwierigkeiten und Zweifel, die wir bei der Unvollkommenheit
unseres für diese Zwecke nicht ausreichenden Materiales nicht zu lösen
vermögen. Ich betrachte es aber schon als einen Vortheil, wenn
gerade durch die Unsicherheit unserer Ergebnisse wenigstens die Noth-
wendigkeit eines sehr gründlichen und vorsichtigen Arbeitens
auf diesem Gebiete dargethan wird. Nur die peinlichste Pedanterie kann
uns hier vor Oberflächlichkeit und voreiligen Schlussfolgerungen be-
wahren. Gerade diese Erkenntniss aber ist immer ein Zeichen dafür,
dass man wenigstens beginnt, in das Wesen einer Frage etwas tiefer
einzudringen. Ueberall, wo wir Lebensvorgänge untersuchen, pflegen
wir zunächst mit unsäglich grob schematischen Vorstellungen an die-
selben heranzutreten. Die hergebrachten „Associationsgesetze“, die
„vier Temperamente“, die Lehre von den „Sprachcentren“ und „Asso-
ciationsbahnen“ sind auf unserem Gebiete nur allzu treffende Beweise
dafür aus alter und neuester Zeit. Es sind die grossen Farbenflächen
auf Michelangelo’s jüngstem Gericht, die uns zunächst in’s Auge fallen.
Erst allmählich, bei mühsamem und eingehendem Studium, entdecken
wir alle die zahllosen Einzelheiten, aus denen sich das Ganze zusammen-
setzt, die mannigfaltige Gliederung der Contouren und Farbentöne
auf jedem Quadratzoll. Wir erkennen den unendlichen Reichthum an
Gestaltungen, und es kommt der Augenblick, in welchem wir daran
verzweifeln, uns durch diese verwirrende Mannigfaltigkeit hindurch-
zuringen. Endlich aber, wenn uns jede Figur vertraut geworden ist,
wenn wir an den verschiedensten Stellen die inneren Beziehungen der
einzelnen Theile zu einander erfasst haben, dann eröffnet sich uns
nach und nach das wahre, tiefere Verständniss des ganzen grossen
Werkes, und aus dem verwickelten Zusammenhange einer Ueber-
fülle von Formen und Farben heraus tritt lebendig und greifbar die
gewaltige einheitliche Idee, die das Ganze beseelt.

Bevor wir auf unserem Gebiete bis zu diesem Punkte gelangen, be-
darf es noch langer, unermüdlicher, sorgfältiger Einzelarbeit. Einiges
Detail haben wir herbeischaffen können, und an manchen Punkten
beginnen wir vielleicht auch die Beziehungen dieser oder jener Er-
scheinungen unter einander zu ahnen. Die aus den Versuchen er-
schlossene Mannigfaltigkeit der centralen Wirkungen unserer Arznei-
mittel hat gezeigt, dass wir hier wol auf dem richtigen Wege sind,

Kraepelin, Beeinflussung. 17
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[257/0273] Man wird sich der Einsicht nicht verschliessen können, dass die aus unseren Versuchen abgeleiteten Beiträge zur Würdigung der in- dividuellen Differenzen mehr den Charakter von Anregungen, als von wirklichen Erkenntnissen besitzen. Auf Schritt und Tritt begegnen uns Schwierigkeiten und Zweifel, die wir bei der Unvollkommenheit unseres für diese Zwecke nicht ausreichenden Materiales nicht zu lösen vermögen. Ich betrachte es aber schon als einen Vortheil, wenn gerade durch die Unsicherheit unserer Ergebnisse wenigstens die Noth- wendigkeit eines sehr gründlichen und vorsichtigen Arbeitens auf diesem Gebiete dargethan wird. Nur die peinlichste Pedanterie kann uns hier vor Oberflächlichkeit und voreiligen Schlussfolgerungen be- wahren. Gerade diese Erkenntniss aber ist immer ein Zeichen dafür, dass man wenigstens beginnt, in das Wesen einer Frage etwas tiefer einzudringen. Ueberall, wo wir Lebensvorgänge untersuchen, pflegen wir zunächst mit unsäglich grob schematischen Vorstellungen an die- selben heranzutreten. Die hergebrachten „Associationsgesetze“, die „vier Temperamente“, die Lehre von den „Sprachcentren“ und „Asso- ciationsbahnen“ sind auf unserem Gebiete nur allzu treffende Beweise dafür aus alter und neuester Zeit. Es sind die grossen Farbenflächen auf Michelangelo’s jüngstem Gericht, die uns zunächst in’s Auge fallen. Erst allmählich, bei mühsamem und eingehendem Studium, entdecken wir alle die zahllosen Einzelheiten, aus denen sich das Ganze zusammen- setzt, die mannigfaltige Gliederung der Contouren und Farbentöne auf jedem Quadratzoll. Wir erkennen den unendlichen Reichthum an Gestaltungen, und es kommt der Augenblick, in welchem wir daran verzweifeln, uns durch diese verwirrende Mannigfaltigkeit hindurch- zuringen. Endlich aber, wenn uns jede Figur vertraut geworden ist, wenn wir an den verschiedensten Stellen die inneren Beziehungen der einzelnen Theile zu einander erfasst haben, dann eröffnet sich uns nach und nach das wahre, tiefere Verständniss des ganzen grossen Werkes, und aus dem verwickelten Zusammenhange einer Ueber- fülle von Formen und Farben heraus tritt lebendig und greifbar die gewaltige einheitliche Idee, die das Ganze beseelt. Bevor wir auf unserem Gebiete bis zu diesem Punkte gelangen, be- darf es noch langer, unermüdlicher, sorgfältiger Einzelarbeit. Einiges Detail haben wir herbeischaffen können, und an manchen Punkten beginnen wir vielleicht auch die Beziehungen dieser oder jener Er- scheinungen unter einander zu ahnen. Die aus den Versuchen er- schlossene Mannigfaltigkeit der centralen Wirkungen unserer Arznei- mittel hat gezeigt, dass wir hier wol auf dem richtigen Wege sind, Kraepelin, Beeinflussung. 17

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/273>, abgerufen am 28.04.2024.