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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Ja, der Großpapa, sein Zorn über die Neuerungen! Es
war schwer sich beiden zu widersetzen, denn man ehrt die
Ruine, der man seine Existenz zu verdanken hat und betrach¬
tet ihre Absonderlichkeiten wie etwas Heiliges, Ueberliefertes.
Und Johannes Timpe hatte seinem Vater Alles zu verdan¬
ken: seine Kunstfertigkeit als Drechsler, die Zähigkeit und Aus¬
dauer, die man ihm nachrühmte, und auch dieses kleine, un¬
scheinbare Haus, in dem er geboren und erzogen worden war.
Schon sein Aeußeres verrieth die längst vergangene Epoche,
in der es entstanden war. Ueber den vier Fenstern des
Parterregeschosses zeigten sich in Stein gehauen, geflügelte
Engelsköpfe, von denen nur zwei noch völlig erhalten waren,
während von je einem der anderen Nase und Flügel fehlten.

Die drei ausgetretenen Steinstufen führten zu der bohlen¬
artigen, mit großen Nägelköpfen gezierten Thür, über welcher
reliefartig das Sinnbild des Drechsler- und Kunstdrechsler¬
gewerbes prangte: ein Taster, auf dem über Kreuz Meißel
und Röhre lagen; darunter eine Kugel, flankirt von zwei
Schachfiguren.

Was dem Hause als ein besonderes Merkmal anhaftete,
war seine außergewöhnliche Lage. Es stand mit der Front
schräg hinter der Straße, so daß vor seinen Fenstern zwischen
der Flucht des Trottoirs und der Seitenwand des Nachbar¬
hauses ein spitzwinkliger Vorderhof entstanden war, der von
der Straße durch ein Holzgitter getrennt wurde. Dieser ab¬
sonderliche Umstand hatte auch an der Schmalseite des Ge¬
bäudes, an deren äußerster Ecke das andere Nachbarhaus
hervorragte, einen zweiten, kleineren Winkel geschaffen, der
durch eine Bretterwand bis zur Höhe des Giebelfensters den
Blicken verdeckt wurde. Man hätte das ganze Häuschen wie

Ja, der Großpapa, ſein Zorn über die Neuerungen! Es
war ſchwer ſich beiden zu widerſetzen, denn man ehrt die
Ruine, der man ſeine Exiſtenz zu verdanken hat und betrach¬
tet ihre Abſonderlichkeiten wie etwas Heiliges, Ueberliefertes.
Und Johannes Timpe hatte ſeinem Vater Alles zu verdan¬
ken: ſeine Kunſtfertigkeit als Drechſler, die Zähigkeit und Aus¬
dauer, die man ihm nachrühmte, und auch dieſes kleine, un¬
ſcheinbare Haus, in dem er geboren und erzogen worden war.
Schon ſein Aeußeres verrieth die längſt vergangene Epoche,
in der es entſtanden war. Ueber den vier Fenſtern des
Parterregeſchoſſes zeigten ſich in Stein gehauen, geflügelte
Engelsköpfe, von denen nur zwei noch völlig erhalten waren,
während von je einem der anderen Naſe und Flügel fehlten.

Die drei ausgetretenen Steinſtufen führten zu der bohlen¬
artigen, mit großen Nägelköpfen gezierten Thür, über welcher
reliefartig das Sinnbild des Drechsler- und Kunſtdrechsler¬
gewerbes prangte: ein Taſter, auf dem über Kreuz Meißel
und Röhre lagen; darunter eine Kugel, flankirt von zwei
Schachfiguren.

Was dem Hauſe als ein beſonderes Merkmal anhaftete,
war ſeine außergewöhnliche Lage. Es ſtand mit der Front
ſchräg hinter der Straße, ſo daß vor ſeinen Fenſtern zwiſchen
der Flucht des Trottoirs und der Seitenwand des Nachbar¬
hauſes ein ſpitzwinkliger Vorderhof entſtanden war, der von
der Straße durch ein Holzgitter getrennt wurde. Dieſer ab¬
ſonderliche Umſtand hatte auch an der Schmalſeite des Ge¬
bäudes, an deren äußerſter Ecke das andere Nachbarhaus
hervorragte, einen zweiten, kleineren Winkel geſchaffen, der
durch eine Bretterwand bis zur Höhe des Giebelfenſters den
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[11/0023] Ja, der Großpapa, ſein Zorn über die Neuerungen! Es war ſchwer ſich beiden zu widerſetzen, denn man ehrt die Ruine, der man ſeine Exiſtenz zu verdanken hat und betrach¬ tet ihre Abſonderlichkeiten wie etwas Heiliges, Ueberliefertes. Und Johannes Timpe hatte ſeinem Vater Alles zu verdan¬ ken: ſeine Kunſtfertigkeit als Drechſler, die Zähigkeit und Aus¬ dauer, die man ihm nachrühmte, und auch dieſes kleine, un¬ ſcheinbare Haus, in dem er geboren und erzogen worden war. Schon ſein Aeußeres verrieth die längſt vergangene Epoche, in der es entſtanden war. Ueber den vier Fenſtern des Parterregeſchoſſes zeigten ſich in Stein gehauen, geflügelte Engelsköpfe, von denen nur zwei noch völlig erhalten waren, während von je einem der anderen Naſe und Flügel fehlten. Die drei ausgetretenen Steinſtufen führten zu der bohlen¬ artigen, mit großen Nägelköpfen gezierten Thür, über welcher reliefartig das Sinnbild des Drechsler- und Kunſtdrechsler¬ gewerbes prangte: ein Taſter, auf dem über Kreuz Meißel und Röhre lagen; darunter eine Kugel, flankirt von zwei Schachfiguren. Was dem Hauſe als ein beſonderes Merkmal anhaftete, war ſeine außergewöhnliche Lage. Es ſtand mit der Front ſchräg hinter der Straße, ſo daß vor ſeinen Fenſtern zwiſchen der Flucht des Trottoirs und der Seitenwand des Nachbar¬ hauſes ein ſpitzwinkliger Vorderhof entſtanden war, der von der Straße durch ein Holzgitter getrennt wurde. Dieſer ab¬ ſonderliche Umſtand hatte auch an der Schmalſeite des Ge¬ bäudes, an deren äußerſter Ecke das andere Nachbarhaus hervorragte, einen zweiten, kleineren Winkel geſchaffen, der durch eine Bretterwand bis zur Höhe des Giebelfenſters den Blicken verdeckt wurde. Man hätte das ganze Häuschen wie

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/23>, abgerufen am 26.04.2024.