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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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nicht solche verlockenden Gaukeleien, in denen die Küsse seines
Sohnes, die sich niemals bewahrheiten würden, eine Rolle
spielten! Er nahm die Flasche und warf sie mit solcher Kraft
in den entferntesten Winkel, daß sie in Scherben zerfiel; dabei
gelobte er sich, keine zweite mehr an den Mund zu setzen.
Zwei Tage lang hielt er das Gelöbniß; aber bei der Arbeit
rückte er unruhig gegen die Bank, blickte sich so oft nach der
Stelle um, von wo er gewohnheitsmäßig die Flasche zu langen
pflegte, daß er am dritten Tage bereits mechanisch eine neue
in der Küche ausspülte und sie mit dem "Sorgenbrecher"
füllen ließ, als er in der Morgenstunde seine gewöhnlichen
Einkäufe machte. Er wunderte sich dann, wie wohl ihm
wieder beim ersten Schluck wurde, als er die Drehbank in Be¬
wegung setzte.

Worauf er garnicht mehr Werth legte, war sein Aeußeres.
Er übte nach wie vor Reinlichkeit, vernachlässigte aber seine
Kleidung und vergaß ganz und gar, daß er mit der Zeit immer
magerer geworden war, während die Weite seiner Röcke dieselbe
blieb. Seit Monaten trug er im Hause einen fadenscheinigen
Sommerüberzieher und ging damit auch des Morgens
über die Straße. Es war die völlige Gleichgültigkeit, in die
er sich mit der Liebe zur Flasche und zur völligen Einsam¬
keit theilte.

Den ganzen Sommer hindurch war sein Dasein immer
dasselbe; er stand früh Morgens um 6 Uhr auf, drechselte
den langen Tag über seine Stuhlbeine, die des Sonnabends
regelmäßig abgeholt wurden, öffnete Mittags Punkt 12 Uhr
die Hausthür, wenn das Mittagessen gebracht wurde und legte
sich Abends Punkt neun Uhr schlafen. Er verdiente gerade
soviel, daß er existiren und die Zinsen ersparen konnte. Be¬

nicht ſolche verlockenden Gaukeleien, in denen die Küſſe ſeines
Sohnes, die ſich niemals bewahrheiten würden, eine Rolle
ſpielten! Er nahm die Flaſche und warf ſie mit ſolcher Kraft
in den entfernteſten Winkel, daß ſie in Scherben zerfiel; dabei
gelobte er ſich, keine zweite mehr an den Mund zu ſetzen.
Zwei Tage lang hielt er das Gelöbniß; aber bei der Arbeit
rückte er unruhig gegen die Bank, blickte ſich ſo oft nach der
Stelle um, von wo er gewohnheitsmäßig die Flaſche zu langen
pflegte, daß er am dritten Tage bereits mechaniſch eine neue
in der Küche ausſpülte und ſie mit dem „Sorgenbrecher“
füllen ließ, als er in der Morgenſtunde ſeine gewöhnlichen
Einkäufe machte. Er wunderte ſich dann, wie wohl ihm
wieder beim erſten Schluck wurde, als er die Drehbank in Be¬
wegung ſetzte.

Worauf er garnicht mehr Werth legte, war ſein Aeußeres.
Er übte nach wie vor Reinlichkeit, vernachläſſigte aber ſeine
Kleidung und vergaß ganz und gar, daß er mit der Zeit immer
magerer geworden war, während die Weite ſeiner Röcke dieſelbe
blieb. Seit Monaten trug er im Hauſe einen fadenſcheinigen
Sommerüberzieher und ging damit auch des Morgens
über die Straße. Es war die völlige Gleichgültigkeit, in die
er ſich mit der Liebe zur Flaſche und zur völligen Einſam¬
keit theilte.

Den ganzen Sommer hindurch war ſein Daſein immer
daſſelbe; er ſtand früh Morgens um 6 Uhr auf, drechſelte
den langen Tag über ſeine Stuhlbeine, die des Sonnabends
regelmäßig abgeholt wurden, öffnete Mittags Punkt 12 Uhr
die Hausthür, wenn das Mittageſſen gebracht wurde und legte
ſich Abends Punkt neun Uhr ſchlafen. Er verdiente gerade
ſoviel, daß er exiſtiren und die Zinſen erſparen konnte. Be¬

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[271/0283] nicht ſolche verlockenden Gaukeleien, in denen die Küſſe ſeines Sohnes, die ſich niemals bewahrheiten würden, eine Rolle ſpielten! Er nahm die Flaſche und warf ſie mit ſolcher Kraft in den entfernteſten Winkel, daß ſie in Scherben zerfiel; dabei gelobte er ſich, keine zweite mehr an den Mund zu ſetzen. Zwei Tage lang hielt er das Gelöbniß; aber bei der Arbeit rückte er unruhig gegen die Bank, blickte ſich ſo oft nach der Stelle um, von wo er gewohnheitsmäßig die Flaſche zu langen pflegte, daß er am dritten Tage bereits mechaniſch eine neue in der Küche ausſpülte und ſie mit dem „Sorgenbrecher“ füllen ließ, als er in der Morgenſtunde ſeine gewöhnlichen Einkäufe machte. Er wunderte ſich dann, wie wohl ihm wieder beim erſten Schluck wurde, als er die Drehbank in Be¬ wegung ſetzte. Worauf er garnicht mehr Werth legte, war ſein Aeußeres. Er übte nach wie vor Reinlichkeit, vernachläſſigte aber ſeine Kleidung und vergaß ganz und gar, daß er mit der Zeit immer magerer geworden war, während die Weite ſeiner Röcke dieſelbe blieb. Seit Monaten trug er im Hauſe einen fadenſcheinigen Sommerüberzieher und ging damit auch des Morgens über die Straße. Es war die völlige Gleichgültigkeit, in die er ſich mit der Liebe zur Flaſche und zur völligen Einſam¬ keit theilte. Den ganzen Sommer hindurch war ſein Daſein immer daſſelbe; er ſtand früh Morgens um 6 Uhr auf, drechſelte den langen Tag über ſeine Stuhlbeine, die des Sonnabends regelmäßig abgeholt wurden, öffnete Mittags Punkt 12 Uhr die Hausthür, wenn das Mittageſſen gebracht wurde und legte ſich Abends Punkt neun Uhr ſchlafen. Er verdiente gerade ſoviel, daß er exiſtiren und die Zinſen erſparen konnte. Be¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/283>, abgerufen am 07.05.2024.