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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Die Mitleidslosigkeit grinste ihn nun in tausendfacher Gestalt
an. Ekel vor der Welt überkam ihn, nnd zum zweiten Male
in seinem Leben tauchte ein unheilvoller Dämon vor ihm auf,
zerrte an ihm und ließ ihn nicht mehr los. Er trug diesmal
nicht die sanften Züge Thomas Beyers, sondern ein ab¬
schreckend häßliches Antlitz: Es war der Haß gegen die be¬
stehende Ordnung im Staate.

"Beyer hat Recht", sprach er vor sich hin, als er wieder
einmal eine Wanderung unternommen hatte und seine Be¬
mühungen wie gewöhnlich resultatlos geblieben waren. "Beyer
hat Recht!" Als er zum zweiten Male diese Worte wieder¬
holte, blieb er stehen und starrte vor sich hin. Der Dämon
hatte sich plötzlich vor seinen Augen in einen Abgott ver¬
wandelt. "Beten Sie den neuen Heiland an", hatte Beyer
zu ihm gesagt. Den ganzen Tag über unterbrach er seine
Grübeleien immer mit denselben vor sich hingemurmelten
Worten: "Der neue Heiland . . . der neue Heiland . . . bete
den neuen Heiland an!"

Seit acht Tagen hatte er die Drehbank nicht getreten.
War er halberschöpft von seinen Gängen zurückgekehrt, so
durchmaß er mit großen Schritten die Werkstatt und rief sich
alles in's Gedächtniß zurück, was der Altgeselle ihm gepredigt
hatte. Was hätte er jetzt darum gegeben, wenn Thomas
Beyer plötzlich vor ihm aufgetaucht wäre, um noch einmal
das zu wiederholen, was er ihm so oft gesagt hatte. Als
hätte trotz seines physischen Elends sein Geist plötzlich eine
wunderbare Kraft erlangt, fielen ihm ganze Bruchstücke der
Agitationsreden des Altgesellen ein: ". . . Die Leute, die
Sie zu Grunde richten, sind ihre natürlichen Feinde, gegen
welche Sie sich aufbäumen müssen. . . Gott will nicht, daß

Die Mitleidsloſigkeit grinſte ihn nun in tauſendfacher Geſtalt
an. Ekel vor der Welt überkam ihn, nnd zum zweiten Male
in ſeinem Leben tauchte ein unheilvoller Dämon vor ihm auf,
zerrte an ihm und ließ ihn nicht mehr los. Er trug diesmal
nicht die ſanften Züge Thomas Beyers, ſondern ein ab¬
ſchreckend häßliches Antlitz: Es war der Haß gegen die be¬
ſtehende Ordnung im Staate.

„Beyer hat Recht“, ſprach er vor ſich hin, als er wieder
einmal eine Wanderung unternommen hatte und ſeine Be¬
mühungen wie gewöhnlich reſultatlos geblieben waren. „Beyer
hat Recht!“ Als er zum zweiten Male dieſe Worte wieder¬
holte, blieb er ſtehen und ſtarrte vor ſich hin. Der Dämon
hatte ſich plötzlich vor ſeinen Augen in einen Abgott ver¬
wandelt. „Beten Sie den neuen Heiland an“, hatte Beyer
zu ihm geſagt. Den ganzen Tag über unterbrach er ſeine
Grübeleien immer mit denſelben vor ſich hingemurmelten
Worten: „Der neue Heiland . . . der neue Heiland . . . bete
den neuen Heiland an!“

Seit acht Tagen hatte er die Drehbank nicht getreten.
War er halberſchöpft von ſeinen Gängen zurückgekehrt, ſo
durchmaß er mit großen Schritten die Werkſtatt und rief ſich
alles in's Gedächtniß zurück, was der Altgeſelle ihm gepredigt
hatte. Was hätte er jetzt darum gegeben, wenn Thomas
Beyer plötzlich vor ihm aufgetaucht wäre, um noch einmal
das zu wiederholen, was er ihm ſo oft geſagt hatte. Als
hätte trotz ſeines phyſiſchen Elends ſein Geiſt plötzlich eine
wunderbare Kraft erlangt, fielen ihm ganze Bruchſtücke der
Agitationsreden des Altgeſellen ein: „. . . Die Leute, die
Sie zu Grunde richten, ſind ihre natürlichen Feinde, gegen
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[274/0286] Die Mitleidsloſigkeit grinſte ihn nun in tauſendfacher Geſtalt an. Ekel vor der Welt überkam ihn, nnd zum zweiten Male in ſeinem Leben tauchte ein unheilvoller Dämon vor ihm auf, zerrte an ihm und ließ ihn nicht mehr los. Er trug diesmal nicht die ſanften Züge Thomas Beyers, ſondern ein ab¬ ſchreckend häßliches Antlitz: Es war der Haß gegen die be¬ ſtehende Ordnung im Staate. „Beyer hat Recht“, ſprach er vor ſich hin, als er wieder einmal eine Wanderung unternommen hatte und ſeine Be¬ mühungen wie gewöhnlich reſultatlos geblieben waren. „Beyer hat Recht!“ Als er zum zweiten Male dieſe Worte wieder¬ holte, blieb er ſtehen und ſtarrte vor ſich hin. Der Dämon hatte ſich plötzlich vor ſeinen Augen in einen Abgott ver¬ wandelt. „Beten Sie den neuen Heiland an“, hatte Beyer zu ihm geſagt. Den ganzen Tag über unterbrach er ſeine Grübeleien immer mit denſelben vor ſich hingemurmelten Worten: „Der neue Heiland . . . der neue Heiland . . . bete den neuen Heiland an!“ Seit acht Tagen hatte er die Drehbank nicht getreten. War er halberſchöpft von ſeinen Gängen zurückgekehrt, ſo durchmaß er mit großen Schritten die Werkſtatt und rief ſich alles in's Gedächtniß zurück, was der Altgeſelle ihm gepredigt hatte. Was hätte er jetzt darum gegeben, wenn Thomas Beyer plötzlich vor ihm aufgetaucht wäre, um noch einmal das zu wiederholen, was er ihm ſo oft geſagt hatte. Als hätte trotz ſeines phyſiſchen Elends ſein Geiſt plötzlich eine wunderbare Kraft erlangt, fielen ihm ganze Bruchſtücke der Agitationsreden des Altgeſellen ein: „. . . Die Leute, die Sie zu Grunde richten, ſind ihre natürlichen Feinde, gegen welche Sie ſich aufbäumen müſſen. . . Gott will nicht, daß

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/286>, abgerufen am 14.05.2024.