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Krüger, Johann Gottlob: Geschichte der Erde in den allerältesten Zeiten. Halle, 1746.

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in den allerältesten Zeiten.
können die Tone von einander anders als durch die An-
zahl der zitternden Bewegungen unterschieden werden,
welches der grosse Leibnitz wohl eingesehen hat, denn
sonst würde er die Music nicht eine unvermerkte Ausübung
der Rechenkunst genennet haben, dabey die Seele selbst
nicht wüste daß sie zählte. Bey dem Gesichte beweisen
die Regeln der Symmetrie ein gleiches. Warum wollte
man nun von dem Gefühle nicht eben dasselbige einräu-
men. Mehr aber brauche ich nicht, um zu zeigen, daß
es möglich sey, daß ein sterbender Schwindsüchtiger die
Stunde seines Todtes vorhersagen könne. Denn gegen
das Ende dieser Krankheit nehmen die Kräfte ganz lang-
sam ab, und der völlige Mangel derselben ist der Todt.
Das allmählige Abnehmen der Kräfte geschiehet ohnfehl-
bar nach einer gewissen Progression. Die Seele bekömmt
durch das Gefühl von der Art dieser Progression einen Be-
grif, und kan durch eben die Fähigkeit, mit welcher sie
die Tone in der Music beurtheilet, das Ende dieser Pro-
gression eben so genau finden, als ein Rechenmeister die
letzte Zahl einer niedersteigenden Progression bestimmen
kan, wenn ihm die ersten Glieder derselben gegeben sind.
Weiß sie aber, wenn alle zum Leben nöthige Kräfte auf-
hören werden, so weiß sie auch das Ende des Lebens, und
da die Vorstellung davon wegen der Furcht vor dem Tod-
te sehr lebhaft wird, so erlangt sie einen so grossen Grad
der Deutlichkeit, daß sie die Patienten andeuten können.
Daß aber dieses in vielen andern Krankheiten nicht ange-
he, kömmt daher, daß entweder eine Raserey dabey ist,
oder weil die zum Untergange des Körpers abzielenden
Veränderungen, so unordentlich auf einander folgen, daß
entweder gar keine ordentliche Progreßion dabey statt hat,
oder doch nur eine solche, die so verworren ist, daß die
Regel, nach welcher sie beurtheilet werden muß, sehr
schwer zu entdecken ist. Die beyden letztern Fälle haben
bey der Beurtheilung eines künftigen allgemeinen Erdbe-

bens
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in den alleraͤlteſten Zeiten.
koͤnnen die Tone von einander anders als durch die An-
zahl der zitternden Bewegungen unterſchieden werden,
welches der groſſe Leibnitz wohl eingeſehen hat, denn
ſonſt wuͤrde er die Muſic nicht eine unvermerkte Ausuͤbung
der Rechenkunſt genennet haben, dabey die Seele ſelbſt
nicht wuͤſte daß ſie zaͤhlte. Bey dem Geſichte beweiſen
die Regeln der Symmetrie ein gleiches. Warum wollte
man nun von dem Gefuͤhle nicht eben daſſelbige einraͤu-
men. Mehr aber brauche ich nicht, um zu zeigen, daß
es moͤglich ſey, daß ein ſterbender Schwindſuͤchtiger die
Stunde ſeines Todtes vorherſagen koͤnne. Denn gegen
das Ende dieſer Krankheit nehmen die Kraͤfte ganz lang-
ſam ab, und der voͤllige Mangel derſelben iſt der Todt.
Das allmaͤhlige Abnehmen der Kraͤfte geſchiehet ohnfehl-
bar nach einer gewiſſen Progreſſion. Die Seele bekoͤmmt
durch das Gefuͤhl von der Art dieſer Progreſſion einen Be-
grif, und kan durch eben die Faͤhigkeit, mit welcher ſie
die Tone in der Muſic beurtheilet, das Ende dieſer Pro-
greſſion eben ſo genau finden, als ein Rechenmeiſter die
letzte Zahl einer niederſteigenden Progreſſion beſtimmen
kan, wenn ihm die erſten Glieder derſelben gegeben ſind.
Weiß ſie aber, wenn alle zum Leben noͤthige Kraͤfte auf-
hoͤren werden, ſo weiß ſie auch das Ende des Lebens, und
da die Vorſtellung davon wegen der Furcht vor dem Tod-
te ſehr lebhaft wird, ſo erlangt ſie einen ſo groſſen Grad
der Deutlichkeit, daß ſie die Patienten andeuten koͤnnen.
Daß aber dieſes in vielen andern Krankheiten nicht ange-
he, koͤmmt daher, daß entweder eine Raſerey dabey iſt,
oder weil die zum Untergange des Koͤrpers abzielenden
Veraͤnderungen, ſo unordentlich auf einander folgen, daß
entweder gar keine ordentliche Progreßion dabey ſtatt hat,
oder doch nur eine ſolche, die ſo verworren iſt, daß die
Regel, nach welcher ſie beurtheilet werden muß, ſehr
ſchwer zu entdecken iſt. Die beyden letztern Faͤlle haben
bey der Beurtheilung eines kuͤnftigen allgemeinen Erdbe-

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[153/0167] in den alleraͤlteſten Zeiten. koͤnnen die Tone von einander anders als durch die An- zahl der zitternden Bewegungen unterſchieden werden, welches der groſſe Leibnitz wohl eingeſehen hat, denn ſonſt wuͤrde er die Muſic nicht eine unvermerkte Ausuͤbung der Rechenkunſt genennet haben, dabey die Seele ſelbſt nicht wuͤſte daß ſie zaͤhlte. Bey dem Geſichte beweiſen die Regeln der Symmetrie ein gleiches. Warum wollte man nun von dem Gefuͤhle nicht eben daſſelbige einraͤu- men. Mehr aber brauche ich nicht, um zu zeigen, daß es moͤglich ſey, daß ein ſterbender Schwindſuͤchtiger die Stunde ſeines Todtes vorherſagen koͤnne. Denn gegen das Ende dieſer Krankheit nehmen die Kraͤfte ganz lang- ſam ab, und der voͤllige Mangel derſelben iſt der Todt. Das allmaͤhlige Abnehmen der Kraͤfte geſchiehet ohnfehl- bar nach einer gewiſſen Progreſſion. Die Seele bekoͤmmt durch das Gefuͤhl von der Art dieſer Progreſſion einen Be- grif, und kan durch eben die Faͤhigkeit, mit welcher ſie die Tone in der Muſic beurtheilet, das Ende dieſer Pro- greſſion eben ſo genau finden, als ein Rechenmeiſter die letzte Zahl einer niederſteigenden Progreſſion beſtimmen kan, wenn ihm die erſten Glieder derſelben gegeben ſind. Weiß ſie aber, wenn alle zum Leben noͤthige Kraͤfte auf- hoͤren werden, ſo weiß ſie auch das Ende des Lebens, und da die Vorſtellung davon wegen der Furcht vor dem Tod- te ſehr lebhaft wird, ſo erlangt ſie einen ſo groſſen Grad der Deutlichkeit, daß ſie die Patienten andeuten koͤnnen. Daß aber dieſes in vielen andern Krankheiten nicht ange- he, koͤmmt daher, daß entweder eine Raſerey dabey iſt, oder weil die zum Untergange des Koͤrpers abzielenden Veraͤnderungen, ſo unordentlich auf einander folgen, daß entweder gar keine ordentliche Progreßion dabey ſtatt hat, oder doch nur eine ſolche, die ſo verworren iſt, daß die Regel, nach welcher ſie beurtheilet werden muß, ſehr ſchwer zu entdecken iſt. Die beyden letztern Faͤlle haben bey der Beurtheilung eines kuͤnftigen allgemeinen Erdbe- bens K 5

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Zitationshilfe: Krüger, Johann Gottlob: Geschichte der Erde in den allerältesten Zeiten. Halle, 1746, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/krueger_weltweisheit_1746/167>, abgerufen am 29.04.2024.