Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

es ihm zurückbringen, ihm die Hand küssen und sich von Neuem auf¬
stellen. Das ganze Spiel dauerte so lange bis sie hinsank. Voll Abscheu
verließ ich das Ungeheuer; in dieser dritten Ecke aber kam die Scene
wieder zum Vorschein und -- leider muß ich's gestehen -- mit einer
Art von Genuß. Ach, mein Herr, was sind die Freuden des Ein¬
samen! -- Ich war außer mir. Und in der vierten? hatte ich kaum
doch den Muth zu fragen. In diese Ecke blicke ich nie! flüsterte der
Unglückliche abgewendet; seine Stimme klang hohl und ein Schauder
überflog ihn.

Mich auch. Ich bekam eine entsetzliche Anwandlung in diesem
Augenblicke. Es ist ein gewöhnliches Phantasiespiel von mir, daß
ich mir einen blonden, lächelnden Kindskopf in's zitternde Greisenalter
übersetze; umgekehrt kann ich kein blutleeres Runzelgesicht ansehen,
ohne mir sein vollwangiges Jugendbild herauszustudiren. In dem¬
selben Sinne tret' ich manchmal vor den Spiegel, um den Menschen
darin zu erblicken, der ich selbst nach zwanzig oder dreißig Jahren sein
werde. Ein solcher Phantasiespuk war's, der mir jetzt begegnete.
Blitzschnell verwechselten sich die Personen und ich stand an seiner
Stelle. Hu! fort von hier. Eine Schauderthräne trat mir in's Auge.
Ich machte, daß ich aus dem Hause kam.

Nun sage mir! In Europa gibt's Censoren, welche die Gedanken
morden, in Amerika Strafhäuser, welche den Menschen an seine Ge¬
danken ausliefern. Was ist der größere Jammer? Ich glaube das
Letztere. Streicht, Censoren! streicht! Phantasie ist ein Bruthaus des
Wahnsinns! Verschlinge der Abgrund das pennsylvanische System!


Philadelphia. -- Schinderhannes war sehr bornirt, sein Wesen am
Rhein zu treiben. Er hätte Director einer amerikanischen Bank sein müssen.
Wir lesen die Zeitungen über Amerika viel zu flüchtig in Europa.
Sonst würden wir nicht von Vereinigten Staaten, sondern einfach von
Raubstaaten reden. Ich war gestern, um mir das Zellengefängniß aus
dem Sinne zu schlagen, noch in einer hiesigen "Wistar-Parthie". Mein
Wirth, oder vielmehr mein "Freund" hatte mich daselbst eingeführt,
wahrscheinlich zur Entschädigung, daß er mir die Baltimore-Ducks,
eine delicate Entengattung, um die Hälfte theurer als in Newyork an¬

es ihm zurückbringen, ihm die Hand küſſen und ſich von Neuem auf¬
ſtellen. Das ganze Spiel dauerte ſo lange bis ſie hinſank. Voll Abſcheu
verließ ich das Ungeheuer; in dieſer dritten Ecke aber kam die Scene
wieder zum Vorſchein und — leider muß ich's geſtehen — mit einer
Art von Genuß. Ach, mein Herr, was ſind die Freuden des Ein¬
ſamen! — Ich war außer mir. Und in der vierten? hatte ich kaum
doch den Muth zu fragen. In dieſe Ecke blicke ich nie! flüſterte der
Unglückliche abgewendet; ſeine Stimme klang hohl und ein Schauder
überflog ihn.

Mich auch. Ich bekam eine entſetzliche Anwandlung in dieſem
Augenblicke. Es iſt ein gewöhnliches Phantaſieſpiel von mir, daß
ich mir einen blonden, lächelnden Kindskopf in's zitternde Greiſenalter
überſetze; umgekehrt kann ich kein blutleeres Runzelgeſicht anſehen,
ohne mir ſein vollwangiges Jugendbild herauszuſtudiren. In dem¬
ſelben Sinne tret' ich manchmal vor den Spiegel, um den Menſchen
darin zu erblicken, der ich ſelbſt nach zwanzig oder dreißig Jahren ſein
werde. Ein ſolcher Phantaſieſpuk war's, der mir jetzt begegnete.
Blitzſchnell verwechſelten ſich die Perſonen und ich ſtand an ſeiner
Stelle. Hu! fort von hier. Eine Schauderthräne trat mir in's Auge.
Ich machte, daß ich aus dem Hauſe kam.

Nun ſage mir! In Europa gibt's Cenſoren, welche die Gedanken
morden, in Amerika Strafhäuſer, welche den Menſchen an ſeine Ge¬
danken ausliefern. Was iſt der größere Jammer? Ich glaube das
Letztere. Streicht, Cenſoren! ſtreicht! Phantaſie iſt ein Bruthaus des
Wahnſinns! Verſchlinge der Abgrund das pennſylvaniſche Syſtem!


Philadelphia. — Schinderhannes war ſehr bornirt, ſein Weſen am
Rhein zu treiben. Er hätte Director einer amerikaniſchen Bank ſein müſſen.
Wir leſen die Zeitungen über Amerika viel zu flüchtig in Europa.
Sonſt würden wir nicht von Vereinigten Staaten, ſondern einfach von
Raubſtaaten reden. Ich war geſtern, um mir das Zellengefängniß aus
dem Sinne zu ſchlagen, noch in einer hieſigen „Wistar-Parthie“. Mein
Wirth, oder vielmehr mein „Freund“ hatte mich daſelbſt eingeführt,
wahrſcheinlich zur Entſchädigung, daß er mir die Baltimore-Ducks,
eine delicate Entengattung, um die Hälfte theurer als in Newyork an¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0287" n="269"/>
es ihm zurückbringen, ihm die Hand kü&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ich von Neuem auf¬<lb/>
&#x017F;tellen. Das ganze Spiel dauerte &#x017F;o lange bis &#x017F;ie hin&#x017F;ank. Voll Ab&#x017F;cheu<lb/>
verließ ich das Ungeheuer; in die&#x017F;er dritten Ecke aber kam die Scene<lb/>
wieder zum Vor&#x017F;chein und &#x2014; leider muß ich's ge&#x017F;tehen &#x2014; mit einer<lb/>
Art von Genuß. Ach, mein Herr, was &#x017F;ind die Freuden des Ein¬<lb/>
&#x017F;amen! &#x2014; Ich war außer mir. Und in der vierten? hatte ich kaum<lb/>
doch den Muth zu fragen. In die&#x017F;e Ecke blicke ich nie! flü&#x017F;terte der<lb/>
Unglückliche abgewendet; &#x017F;eine Stimme klang hohl und ein Schauder<lb/>
überflog ihn.</p><lb/>
            <p>Mich auch. Ich bekam eine ent&#x017F;etzliche Anwandlung in die&#x017F;em<lb/>
Augenblicke. Es i&#x017F;t ein gewöhnliches Phanta&#x017F;ie&#x017F;piel von mir, daß<lb/>
ich mir einen blonden, lächelnden Kindskopf in's zitternde Grei&#x017F;enalter<lb/>
über&#x017F;etze; umgekehrt kann ich kein blutleeres Runzelge&#x017F;icht an&#x017F;ehen,<lb/>
ohne mir &#x017F;ein vollwangiges Jugendbild herauszu&#x017F;tudiren. In dem¬<lb/>
&#x017F;elben Sinne tret' ich manchmal vor den Spiegel, um den Men&#x017F;chen<lb/>
darin zu erblicken, der ich &#x017F;elb&#x017F;t nach zwanzig oder dreißig Jahren &#x017F;ein<lb/>
werde. Ein &#x017F;olcher Phanta&#x017F;ie&#x017F;puk war's, der mir jetzt begegnete.<lb/>
Blitz&#x017F;chnell verwech&#x017F;elten &#x017F;ich die Per&#x017F;onen und ich &#x017F;tand an <hi rendition="#g">&#x017F;einer</hi><lb/>
Stelle. Hu! fort von hier. Eine Schauderthräne trat mir in's Auge.<lb/>
Ich machte, daß ich aus dem Hau&#x017F;e kam.</p><lb/>
            <p>Nun &#x017F;age mir! In Europa gibt's Cen&#x017F;oren, welche die Gedanken<lb/>
morden, in Amerika Strafhäu&#x017F;er, welche den Men&#x017F;chen an &#x017F;eine Ge¬<lb/>
danken ausliefern. Was i&#x017F;t der größere Jammer? Ich glaube das<lb/>
Letztere. Streicht, Cen&#x017F;oren! &#x017F;treicht! Phanta&#x017F;ie i&#x017F;t ein Bruthaus des<lb/><hi rendition="#g">Wahn&#x017F;inns</hi>! Ver&#x017F;chlinge der Abgrund das penn&#x017F;ylvani&#x017F;che Sy&#x017F;tem!</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p><hi rendition="#g">Philadelphia</hi>. &#x2014; Schinderhannes war &#x017F;ehr bornirt, &#x017F;ein We&#x017F;en am<lb/>
Rhein zu treiben. Er hätte Director einer amerikani&#x017F;chen Bank &#x017F;ein mü&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Wir le&#x017F;en die Zeitungen über Amerika viel zu flüchtig in Europa.<lb/>
Son&#x017F;t würden wir nicht von Vereinigten Staaten, &#x017F;ondern einfach von<lb/>
Raub&#x017F;taaten reden. Ich war ge&#x017F;tern, um mir das Zellengefängniß aus<lb/>
dem Sinne zu &#x017F;chlagen, noch in einer hie&#x017F;igen &#x201E;<hi rendition="#aq">Wistar</hi>-Parthie&#x201C;. Mein<lb/>
Wirth, oder vielmehr mein &#x201E;Freund&#x201C; hatte mich da&#x017F;elb&#x017F;t eingeführt,<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich zur Ent&#x017F;chädigung, daß er mir die Baltimore-Ducks,<lb/>
eine delicate Entengattung, um die Hälfte theurer als in Newyork an¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[269/0287] es ihm zurückbringen, ihm die Hand küſſen und ſich von Neuem auf¬ ſtellen. Das ganze Spiel dauerte ſo lange bis ſie hinſank. Voll Abſcheu verließ ich das Ungeheuer; in dieſer dritten Ecke aber kam die Scene wieder zum Vorſchein und — leider muß ich's geſtehen — mit einer Art von Genuß. Ach, mein Herr, was ſind die Freuden des Ein¬ ſamen! — Ich war außer mir. Und in der vierten? hatte ich kaum doch den Muth zu fragen. In dieſe Ecke blicke ich nie! flüſterte der Unglückliche abgewendet; ſeine Stimme klang hohl und ein Schauder überflog ihn. Mich auch. Ich bekam eine entſetzliche Anwandlung in dieſem Augenblicke. Es iſt ein gewöhnliches Phantaſieſpiel von mir, daß ich mir einen blonden, lächelnden Kindskopf in's zitternde Greiſenalter überſetze; umgekehrt kann ich kein blutleeres Runzelgeſicht anſehen, ohne mir ſein vollwangiges Jugendbild herauszuſtudiren. In dem¬ ſelben Sinne tret' ich manchmal vor den Spiegel, um den Menſchen darin zu erblicken, der ich ſelbſt nach zwanzig oder dreißig Jahren ſein werde. Ein ſolcher Phantaſieſpuk war's, der mir jetzt begegnete. Blitzſchnell verwechſelten ſich die Perſonen und ich ſtand an ſeiner Stelle. Hu! fort von hier. Eine Schauderthräne trat mir in's Auge. Ich machte, daß ich aus dem Hauſe kam. Nun ſage mir! In Europa gibt's Cenſoren, welche die Gedanken morden, in Amerika Strafhäuſer, welche den Menſchen an ſeine Ge¬ danken ausliefern. Was iſt der größere Jammer? Ich glaube das Letztere. Streicht, Cenſoren! ſtreicht! Phantaſie iſt ein Bruthaus des Wahnſinns! Verſchlinge der Abgrund das pennſylvaniſche Syſtem! Philadelphia. — Schinderhannes war ſehr bornirt, ſein Weſen am Rhein zu treiben. Er hätte Director einer amerikaniſchen Bank ſein müſſen. Wir leſen die Zeitungen über Amerika viel zu flüchtig in Europa. Sonſt würden wir nicht von Vereinigten Staaten, ſondern einfach von Raubſtaaten reden. Ich war geſtern, um mir das Zellengefängniß aus dem Sinne zu ſchlagen, noch in einer hieſigen „Wistar-Parthie“. Mein Wirth, oder vielmehr mein „Freund“ hatte mich daſelbſt eingeführt, wahrſcheinlich zur Entſchädigung, daß er mir die Baltimore-Ducks, eine delicate Entengattung, um die Hälfte theurer als in Newyork an¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/287
Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/287>, abgerufen am 09.05.2024.