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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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In dieser Stimmung entraffte er sich der dumpfen Leidensöde sei¬
nes Zimmers und suchte die "frische Luft". Die Luft war mehr als
frisch, sie war rauh. Seit jenem zweiten Tagesritt an den Eriesee lag
der Sommer, wie von einer scharfen Klinge geköpft, als plötzliche
Winterleiche da. Unser Europäer hatte zu erfahren, daß Amerika den
Uebergang der Jahreszeiten gleich mancher anderen Schönheit entbehre.

Er warf sich in ein Segelboot und fuhr scharf dem schneidenden
Nordwind entgegen. Ja, die frostige Klarheit des Hudson erregte ihm
die schauerliche Begierde zu baden. Er fuhr den letzten Newyorker-
Bauten aus den Augen und that es. Nach einem zweistündigen Aus¬
flug ließ er das Boot wieder wenden, das mit dem Winde strom¬
abwärts in einer Viertelstunde zurückflog. Den Rest des Tages brachte
er unter den Händen des Friseurs, am Toilettentisch, vor dem Klei¬
derschrank zu. Er wollte mindestens vorbereitet sein, wenn bis zum
Abend sein Entschluß reif wäre, ihn auch ausführen zu können.
Wußte er nicht, daß all diese Vorbereitungen selbst nichts waren, als
die Frucht der entschiedensten Reife? Und so stand sein träger Stun¬
denzeiger kaum auf sieben Uhr, als er mit Muth, Lust, Jugend,
Stolz und Vertrauen sich in den Wagen warf, -- mit dem Stolze,
daß der geistig überlegene Mensch sich selbst Ersatz sei für einen un¬
günstigen Moment seiner Aeußerlichkeit, mit dem Vertrauen, ja mit
der Zuversicht, daß er endlich, endlich hier einen Gang mache, der ihm
die erste und letzte Genugthuung in Amerika biete.

Waren das Schneeflocken, die ein barbarischer Nordost gegen sein
Wagenfenster peitschte? waren es Feuersignale, die von dem Thurm
der City-Hall tönten und die Stadt zu schauerlichem Tumulte auf¬
regten? Liefen die Menschen zu dem Brande, fegte sie der rasselnde
Hagelsturm so herbst-wild durch die Straßen? Der Kutscher hieb auf
die Pferde ein, der Wagen jagte wie auf einer verzweifelten Flucht,
-- Moorfeld sah und hörte nur mit vorübereilenden Sinnen: es war
ein unheimliches Stück Straßenleben, dem er auf dieser Fahrt zur
Staffage diente.

Endlich hielt der Wagen unter den sturmzerzausten Pappeln und
Platanen des Parks auf der Battery.

Die hellbeleuchtete Reihe von Bennet's Fenstern warf irrende
Lichter auf die Bäume, welche mit ihren triefenden Wipfeln unruhig

In dieſer Stimmung entraffte er ſich der dumpfen Leidensöde ſei¬
nes Zimmers und ſuchte die „friſche Luft“. Die Luft war mehr als
friſch, ſie war rauh. Seit jenem zweiten Tagesritt an den Erieſee lag
der Sommer, wie von einer ſcharfen Klinge geköpft, als plötzliche
Winterleiche da. Unſer Europäer hatte zu erfahren, daß Amerika den
Uebergang der Jahreszeiten gleich mancher anderen Schönheit entbehre.

Er warf ſich in ein Segelboot und fuhr ſcharf dem ſchneidenden
Nordwind entgegen. Ja, die froſtige Klarheit des Hudſon erregte ihm
die ſchauerliche Begierde zu baden. Er fuhr den letzten Newyorker-
Bauten aus den Augen und that es. Nach einem zweiſtündigen Aus¬
flug ließ er das Boot wieder wenden, das mit dem Winde ſtrom¬
abwärts in einer Viertelſtunde zurückflog. Den Reſt des Tages brachte
er unter den Händen des Friſeurs, am Toilettentiſch, vor dem Klei¬
derſchrank zu. Er wollte mindeſtens vorbereitet ſein, wenn bis zum
Abend ſein Entſchluß reif wäre, ihn auch ausführen zu können.
Wußte er nicht, daß all dieſe Vorbereitungen ſelbſt nichts waren, als
die Frucht der entſchiedenſten Reife? Und ſo ſtand ſein träger Stun¬
denzeiger kaum auf ſieben Uhr, als er mit Muth, Luſt, Jugend,
Stolz und Vertrauen ſich in den Wagen warf, — mit dem Stolze,
daß der geiſtig überlegene Menſch ſich ſelbſt Erſatz ſei für einen un¬
günſtigen Moment ſeiner Aeußerlichkeit, mit dem Vertrauen, ja mit
der Zuverſicht, daß er endlich, endlich hier einen Gang mache, der ihm
die erſte und letzte Genugthuung in Amerika biete.

Waren das Schneeflocken, die ein barbariſcher Nordoſt gegen ſein
Wagenfenſter peitſchte? waren es Feuerſignale, die von dem Thurm
der City-Hall tönten und die Stadt zu ſchauerlichem Tumulte auf¬
regten? Liefen die Menſchen zu dem Brande, fegte ſie der raſſelnde
Hagelſturm ſo herbſt-wild durch die Straßen? Der Kutſcher hieb auf
die Pferde ein, der Wagen jagte wie auf einer verzweifelten Flucht,
— Moorfeld ſah und hörte nur mit vorübereilenden Sinnen: es war
ein unheimliches Stück Straßenleben, dem er auf dieſer Fahrt zur
Staffage diente.

Endlich hielt der Wagen unter den ſturmzerzausten Pappeln und
Platanen des Parks auf der Battery.

Die hellbeleuchtete Reihe von Bennet's Fenſtern warf irrende
Lichter auf die Bäume, welche mit ihren triefenden Wipfeln unruhig

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[483/0501] In dieſer Stimmung entraffte er ſich der dumpfen Leidensöde ſei¬ nes Zimmers und ſuchte die „friſche Luft“. Die Luft war mehr als friſch, ſie war rauh. Seit jenem zweiten Tagesritt an den Erieſee lag der Sommer, wie von einer ſcharfen Klinge geköpft, als plötzliche Winterleiche da. Unſer Europäer hatte zu erfahren, daß Amerika den Uebergang der Jahreszeiten gleich mancher anderen Schönheit entbehre. Er warf ſich in ein Segelboot und fuhr ſcharf dem ſchneidenden Nordwind entgegen. Ja, die froſtige Klarheit des Hudſon erregte ihm die ſchauerliche Begierde zu baden. Er fuhr den letzten Newyorker- Bauten aus den Augen und that es. Nach einem zweiſtündigen Aus¬ flug ließ er das Boot wieder wenden, das mit dem Winde ſtrom¬ abwärts in einer Viertelſtunde zurückflog. Den Reſt des Tages brachte er unter den Händen des Friſeurs, am Toilettentiſch, vor dem Klei¬ derſchrank zu. Er wollte mindeſtens vorbereitet ſein, wenn bis zum Abend ſein Entſchluß reif wäre, ihn auch ausführen zu können. Wußte er nicht, daß all dieſe Vorbereitungen ſelbſt nichts waren, als die Frucht der entſchiedenſten Reife? Und ſo ſtand ſein träger Stun¬ denzeiger kaum auf ſieben Uhr, als er mit Muth, Luſt, Jugend, Stolz und Vertrauen ſich in den Wagen warf, — mit dem Stolze, daß der geiſtig überlegene Menſch ſich ſelbſt Erſatz ſei für einen un¬ günſtigen Moment ſeiner Aeußerlichkeit, mit dem Vertrauen, ja mit der Zuverſicht, daß er endlich, endlich hier einen Gang mache, der ihm die erſte und letzte Genugthuung in Amerika biete. Waren das Schneeflocken, die ein barbariſcher Nordoſt gegen ſein Wagenfenſter peitſchte? waren es Feuerſignale, die von dem Thurm der City-Hall tönten und die Stadt zu ſchauerlichem Tumulte auf¬ regten? Liefen die Menſchen zu dem Brande, fegte ſie der raſſelnde Hagelſturm ſo herbſt-wild durch die Straßen? Der Kutſcher hieb auf die Pferde ein, der Wagen jagte wie auf einer verzweifelten Flucht, — Moorfeld ſah und hörte nur mit vorübereilenden Sinnen: es war ein unheimliches Stück Straßenleben, dem er auf dieſer Fahrt zur Staffage diente. Endlich hielt der Wagen unter den ſturmzerzausten Pappeln und Platanen des Parks auf der Battery. Die hellbeleuchtete Reihe von Bennet's Fenſtern warf irrende Lichter auf die Bäume, welche mit ihren triefenden Wipfeln unruhig

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/501>, abgerufen am 26.04.2024.