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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Geschmacke aus; aber gewisse Naturen -- dichterische oder weibliche
z. B. -- urtheilen gleichsam unwillkürlich, divinatorisch, mit der Spür¬
kraft der Empfindung, mit der raschen Gestaltungsfähigkeit der Phan¬
tasie. Es wäre ganz vergeblich, ein solches Urtheil zu unterdrücken, oder
zu betäuben. Auch liegt keine moralische Nöthigung dazu vor. Nur der
langsame Kopf nennt es Vorurtheil, der schnelle schöpferische darf es
mit Recht sein Urtheil nennen. Was jenem die Erfahrung ist, das
ist diesem die Iotuition. Beide haben in der That zwei verschiedene
Gewissen. Ja, adoptirt selbst der Geniale das Gewissen der Lang¬
samen, und leistet er ihm, da es das Gesetz der Mehrheit ist, gleich¬
sam aus Zerstreuung Gehorsam -- er wird es nie lange thun und stets
seiner eigenen Stimme vertrauen dürfen. Moorfeld konnte ihr jetzt
schon mindestens nicht gänzlich mißtrauen.

Inzwischen lag der Sabbath auf der Stadt draußen, wie eine
eiserne Maske. Moorfeld stand in seinem Fenster und betrachtete fast
bewundernd das große, allgemeine Nichts. Es kam ihm wie eine
Art Kunstwerk vor, dieses Schweigen hervorzubringen. Einem Orga¬
nismus, wie Newyork, eine solche Generalpause aufzulegen, schien ihm
der höchste mechanische Triumph. Vor seinem Fenster fluthete der
Hudson, aber die Schiffe lagen darin, wie eine Heerde geschlachteter
Lämmer. Am Himmel brannte die Sonne zwecklos, und sein weit¬
gespanntes Blau zuckte und sprühte von Licht, aber nirgends die Staf¬
fage einer einzigen Rauchsäule! Er horchte weit und breit in die
Welt hinaus -- kein Wagen rollte, keine Menschenstimme scholl von
der Straße. Er dachte an die Lärmscene des Brandes zurück -- ein
Jahrhundert schien ihm vergangen seitdem.

Er brannte sich seinen mächtigen Türkenkopf an und wanderte auf
und ab in der Stube. Die Scene fing an Eindruck auf ihn zu
machen. Von Zeit zu Zeit blieb er wieder am Fenster stehen, und
starrte in die Langweile hinaus. Allmählig füllt sich sein Auge mit
Geistern, seine Mienen spannen sich und zeigen jenen Ausdruck, welcher
verräth, daß die inneren Gedankenkreise in Fluß gerathen. Ja, er
hat Funken gefangen von der Langweile. Die Langweile ist ihm zum
Pathos geworden. Mit jener feinen dichterischen Saugader, welche
jeder Erscheinung ihren Geist auszusaugen weiß, zieht er Leben aus
der allgemeinen Leblosigkeit, Ideen aus dem absoluten Stillstande.

Geſchmacke aus; aber gewiſſe Naturen — dichteriſche oder weibliche
z. B. — urtheilen gleichſam unwillkürlich, divinatoriſch, mit der Spür¬
kraft der Empfindung, mit der raſchen Geſtaltungsfähigkeit der Phan¬
taſie. Es wäre ganz vergeblich, ein ſolches Urtheil zu unterdrücken, oder
zu betäuben. Auch liegt keine moraliſche Nöthigung dazu vor. Nur der
langſame Kopf nennt es Vorurtheil, der ſchnelle ſchöpferiſche darf es
mit Recht ſein Urtheil nennen. Was jenem die Erfahrung iſt, das
iſt dieſem die Iotuition. Beide haben in der That zwei verſchiedene
Gewiſſen. Ja, adoptirt ſelbſt der Geniale das Gewiſſen der Lang¬
ſamen, und leiſtet er ihm, da es das Geſetz der Mehrheit iſt, gleich¬
ſam aus Zerſtreuung Gehorſam — er wird es nie lange thun und ſtets
ſeiner eigenen Stimme vertrauen dürfen. Moorfeld konnte ihr jetzt
ſchon mindeſtens nicht gänzlich mißtrauen.

Inzwiſchen lag der Sabbath auf der Stadt draußen, wie eine
eiſerne Maske. Moorfeld ſtand in ſeinem Fenſter und betrachtete faſt
bewundernd das große, allgemeine Nichts. Es kam ihm wie eine
Art Kunſtwerk vor, dieſes Schweigen hervorzubringen. Einem Orga¬
nismus, wie Newyork, eine ſolche Generalpauſe aufzulegen, ſchien ihm
der höchſte mechaniſche Triumph. Vor ſeinem Fenſter fluthete der
Hudſon, aber die Schiffe lagen darin, wie eine Heerde geſchlachteter
Lämmer. Am Himmel brannte die Sonne zwecklos, und ſein weit¬
geſpanntes Blau zuckte und ſprühte von Licht, aber nirgends die Staf¬
fage einer einzigen Rauchſäule! Er horchte weit und breit in die
Welt hinaus — kein Wagen rollte, keine Menſchenſtimme ſcholl von
der Straße. Er dachte an die Lärmſcene des Brandes zurück — ein
Jahrhundert ſchien ihm vergangen ſeitdem.

Er brannte ſich ſeinen mächtigen Türkenkopf an und wanderte auf
und ab in der Stube. Die Scene fing an Eindruck auf ihn zu
machen. Von Zeit zu Zeit blieb er wieder am Fenſter ſtehen, und
ſtarrte in die Langweile hinaus. Allmählig füllt ſich ſein Auge mit
Geiſtern, ſeine Mienen ſpannen ſich und zeigen jenen Ausdruck, welcher
verräth, daß die inneren Gedankenkreiſe in Fluß gerathen. Ja, er
hat Funken gefangen von der Langweile. Die Langweile iſt ihm zum
Pathos geworden. Mit jener feinen dichteriſchen Saugader, welche
jeder Erſcheinung ihren Geiſt auszuſaugen weiß, zieht er Leben aus
der allgemeinen Lebloſigkeit, Ideen aus dem abſoluten Stillſtande.

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[48/0066] Geſchmacke aus; aber gewiſſe Naturen — dichteriſche oder weibliche z. B. — urtheilen gleichſam unwillkürlich, divinatoriſch, mit der Spür¬ kraft der Empfindung, mit der raſchen Geſtaltungsfähigkeit der Phan¬ taſie. Es wäre ganz vergeblich, ein ſolches Urtheil zu unterdrücken, oder zu betäuben. Auch liegt keine moraliſche Nöthigung dazu vor. Nur der langſame Kopf nennt es Vorurtheil, der ſchnelle ſchöpferiſche darf es mit Recht ſein Urtheil nennen. Was jenem die Erfahrung iſt, das iſt dieſem die Iotuition. Beide haben in der That zwei verſchiedene Gewiſſen. Ja, adoptirt ſelbſt der Geniale das Gewiſſen der Lang¬ ſamen, und leiſtet er ihm, da es das Geſetz der Mehrheit iſt, gleich¬ ſam aus Zerſtreuung Gehorſam — er wird es nie lange thun und ſtets ſeiner eigenen Stimme vertrauen dürfen. Moorfeld konnte ihr jetzt ſchon mindeſtens nicht gänzlich mißtrauen. Inzwiſchen lag der Sabbath auf der Stadt draußen, wie eine eiſerne Maske. Moorfeld ſtand in ſeinem Fenſter und betrachtete faſt bewundernd das große, allgemeine Nichts. Es kam ihm wie eine Art Kunſtwerk vor, dieſes Schweigen hervorzubringen. Einem Orga¬ nismus, wie Newyork, eine ſolche Generalpauſe aufzulegen, ſchien ihm der höchſte mechaniſche Triumph. Vor ſeinem Fenſter fluthete der Hudſon, aber die Schiffe lagen darin, wie eine Heerde geſchlachteter Lämmer. Am Himmel brannte die Sonne zwecklos, und ſein weit¬ geſpanntes Blau zuckte und ſprühte von Licht, aber nirgends die Staf¬ fage einer einzigen Rauchſäule! Er horchte weit und breit in die Welt hinaus — kein Wagen rollte, keine Menſchenſtimme ſcholl von der Straße. Er dachte an die Lärmſcene des Brandes zurück — ein Jahrhundert ſchien ihm vergangen ſeitdem. Er brannte ſich ſeinen mächtigen Türkenkopf an und wanderte auf und ab in der Stube. Die Scene fing an Eindruck auf ihn zu machen. Von Zeit zu Zeit blieb er wieder am Fenſter ſtehen, und ſtarrte in die Langweile hinaus. Allmählig füllt ſich ſein Auge mit Geiſtern, ſeine Mienen ſpannen ſich und zeigen jenen Ausdruck, welcher verräth, daß die inneren Gedankenkreiſe in Fluß gerathen. Ja, er hat Funken gefangen von der Langweile. Die Langweile iſt ihm zum Pathos geworden. Mit jener feinen dichteriſchen Saugader, welche jeder Erſcheinung ihren Geiſt auszuſaugen weiß, zieht er Leben aus der allgemeinen Lebloſigkeit, Ideen aus dem abſoluten Stillſtande.

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/66>, abgerufen am 27.04.2024.