Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages.
ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers sei,
dem er seine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theore-
tische Betrachtung ergiebt sich aber dieser Satz lediglich als eine
logische Consequenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Princips.
Ebenso wenig wie die Reichstagsmitglieder an Aufträge und
Instruktionen der einzelnen Wahlkörper gebunden sind, ebensowenig
sind sie an Aufträge und Instruktionen des "gesammten Volkes"
gebunden; sie sind überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie
dieser Ausdruck im Art 6 von den Bundesraths-Mitgliedern und
wie er in der Rechtswissenschaft technisch gebraucht wird; sie haben
keine Vollmacht und keinen Auftrag und zwar deshalb nicht, weil
es an einem Rechtssubjekt fehlt, welches ihnen Vollmacht oder
Auftrag ertheilen könnte. Die einzelnen Staaten sind Rechts-
subjekte, deshalb können sie im Bundesrath durch Vertreter ihre
Rechte und ihren Willen geltend machen. Das gesammte Deutsche
Volk hat keine vom Deutschen Reiche verschiedene und ihm gegen-
über selbstständige Persönlichkeit, ist kein Rechtssubjekt und hat
juristisch keinen Willen; es ist daher außer Stande, eine Vollmacht
oder einen Auftrag zu ertheilen und Rechte oder Willensacte durch
Vertreter auszuüben. Eine positive juristische Bedeutung hat die Be-
zeichnung der Reichstagsmitglieder als Vertreter des gesammten
Volkes daher nicht; im juristischen Sinne sind die Reichstagsmit-
glieder Niemandes Vertreter; ihre Befugnisse sind nicht von einem
anderen Rechtssubjekt abgeleitete; es giebt keinen einzigen Punkt
in der ganzen Rechtsstellung der Reichstagsmitglieder, der von
den Rechtsgrundsätzen über Stellvertretung, Vollmacht oder Man-
dat beherrscht würde. Der Sinn der Redewendung, daß die Mit-
glieder des Reichstages Vertreter des gesammten Volkes sind, ist
vielmehr ausschließlich ein politischer. Der Ausdruck will sagen:
Der Reichstag ist dasjenige Organ, durch welches der Antheil der
Reichsangehörigen an den Willensentschlüssen und der Lebensthätig-
keit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kaiser
und Bundesrath hat das Reich noch ein drittes Organ, durch
welches jeder einzelne (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf
die Politik des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, in-
dem er nach den Regeln des Wahlgesetzes bei der Zusammen-
setzung dieses Organes persönlich mitzuwirken befugt ist. Mit
dieser Befugniß ist sein Recht aber erschöpft, mag er von ihr bei

§. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages.
ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers ſei,
dem er ſeine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theore-
tiſche Betrachtung ergiebt ſich aber dieſer Satz lediglich als eine
logiſche Conſequenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Princips.
Ebenſo wenig wie die Reichstagsmitglieder an Aufträge und
Inſtruktionen der einzelnen Wahlkörper gebunden ſind, ebenſowenig
ſind ſie an Aufträge und Inſtruktionen des „geſammten Volkes“
gebunden; ſie ſind überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie
dieſer Ausdruck im Art 6 von den Bundesraths-Mitgliedern und
wie er in der Rechtswiſſenſchaft techniſch gebraucht wird; ſie haben
keine Vollmacht und keinen Auftrag und zwar deshalb nicht, weil
es an einem Rechtsſubjekt fehlt, welches ihnen Vollmacht oder
Auftrag ertheilen könnte. Die einzelnen Staaten ſind Rechts-
ſubjekte, deshalb können ſie im Bundesrath durch Vertreter ihre
Rechte und ihren Willen geltend machen. Das geſammte Deutſche
Volk hat keine vom Deutſchen Reiche verſchiedene und ihm gegen-
über ſelbſtſtändige Perſönlichkeit, iſt kein Rechtsſubjekt und hat
juriſtiſch keinen Willen; es iſt daher außer Stande, eine Vollmacht
oder einen Auftrag zu ertheilen und Rechte oder Willensacte durch
Vertreter auszuüben. Eine poſitive juriſtiſche Bedeutung hat die Be-
zeichnung der Reichstagsmitglieder als Vertreter des geſammten
Volkes daher nicht; im juriſtiſchen Sinne ſind die Reichstagsmit-
glieder Niemandes Vertreter; ihre Befugniſſe ſind nicht von einem
anderen Rechtsſubjekt abgeleitete; es giebt keinen einzigen Punkt
in der ganzen Rechtsſtellung der Reichstagsmitglieder, der von
den Rechtsgrundſätzen über Stellvertretung, Vollmacht oder Man-
dat beherrſcht würde. Der Sinn der Redewendung, daß die Mit-
glieder des Reichstages Vertreter des geſammten Volkes ſind, iſt
vielmehr ausſchließlich ein politiſcher. Der Ausdruck will ſagen:
Der Reichstag iſt dasjenige Organ, durch welches der Antheil der
Reichsangehörigen an den Willensentſchlüſſen und der Lebensthätig-
keit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kaiſer
und Bundesrath hat das Reich noch ein drittes Organ, durch
welches jeder einzelne (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf
die Politik des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, in-
dem er nach den Regeln des Wahlgeſetzes bei der Zuſammen-
ſetzung dieſes Organes perſönlich mitzuwirken befugt iſt. Mit
dieſer Befugniß iſt ſein Recht aber erſchöpft, mag er von ihr bei

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0523" n="503"/><fw place="top" type="header">§. 47. Allgemeine Charakteri&#x017F;tik des Reichstages.</fw><lb/>
ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers &#x017F;ei,<lb/>
dem er &#x017F;eine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theore-<lb/>
ti&#x017F;che Betrachtung ergiebt &#x017F;ich aber die&#x017F;er Satz lediglich als eine<lb/>
logi&#x017F;che Con&#x017F;equenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Princips.<lb/>
Eben&#x017F;o wenig wie die Reichstagsmitglieder an Aufträge und<lb/>
In&#x017F;truktionen der einzelnen Wahlkörper gebunden &#x017F;ind, eben&#x017F;owenig<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;ie an Aufträge und In&#x017F;truktionen des &#x201E;ge&#x017F;ammten Volkes&#x201C;<lb/>
gebunden; &#x017F;ie &#x017F;ind überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie<lb/>
die&#x017F;er Ausdruck im Art 6 von den Bundesraths-Mitgliedern und<lb/>
wie er in der Rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft techni&#x017F;ch gebraucht wird; &#x017F;ie haben<lb/>
keine Vollmacht und keinen Auftrag und zwar deshalb nicht, weil<lb/>
es an einem Rechts&#x017F;ubjekt fehlt, welches ihnen Vollmacht oder<lb/>
Auftrag ertheilen könnte. Die einzelnen <hi rendition="#g">Staaten</hi> &#x017F;ind Rechts-<lb/>
&#x017F;ubjekte, deshalb können &#x017F;ie im Bundesrath durch Vertreter ihre<lb/>
Rechte und ihren Willen geltend machen. Das ge&#x017F;ammte Deut&#x017F;che<lb/>
Volk hat keine vom Deut&#x017F;chen Reiche ver&#x017F;chiedene und ihm gegen-<lb/>
über &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändige Per&#x017F;önlichkeit, i&#x017F;t kein Rechts&#x017F;ubjekt und hat<lb/>
juri&#x017F;ti&#x017F;ch keinen Willen; es i&#x017F;t daher außer Stande, eine Vollmacht<lb/>
oder einen Auftrag zu ertheilen und Rechte oder Willensacte durch<lb/>
Vertreter auszuüben. Eine po&#x017F;itive juri&#x017F;ti&#x017F;che Bedeutung hat die Be-<lb/>
zeichnung der Reichstagsmitglieder als <hi rendition="#g">Vertreter</hi> des ge&#x017F;ammten<lb/>
Volkes daher nicht; im juri&#x017F;ti&#x017F;chen Sinne &#x017F;ind die Reichstagsmit-<lb/>
glieder Niemandes Vertreter; ihre Befugni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ind nicht von einem<lb/>
anderen Rechts&#x017F;ubjekt abgeleitete; es giebt keinen einzigen Punkt<lb/>
in der ganzen Rechts&#x017F;tellung der Reichstagsmitglieder, der von<lb/>
den Rechtsgrund&#x017F;ätzen über Stellvertretung, Vollmacht oder Man-<lb/>
dat beherr&#x017F;cht würde. Der Sinn der Redewendung, daß die Mit-<lb/>
glieder des Reichstages Vertreter des ge&#x017F;ammten Volkes &#x017F;ind, i&#x017F;t<lb/>
vielmehr aus&#x017F;chließlich ein politi&#x017F;cher. Der Ausdruck will &#x017F;agen:<lb/>
Der Reichstag i&#x017F;t dasjenige Organ, durch welches der Antheil der<lb/>
Reichsangehörigen an den Willensent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en und der Lebensthätig-<lb/>
keit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kai&#x017F;er<lb/>
und Bundesrath hat das Reich noch ein drittes Organ, durch<lb/>
welches jeder <hi rendition="#g">einzelne</hi> (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf<lb/>
die Politik des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, in-<lb/>
dem er nach den Regeln des Wahlge&#x017F;etzes bei der Zu&#x017F;ammen-<lb/>
&#x017F;etzung die&#x017F;es Organes per&#x017F;önlich mitzuwirken befugt i&#x017F;t. Mit<lb/>
die&#x017F;er Befugniß i&#x017F;t &#x017F;ein Recht aber er&#x017F;chöpft, mag er von ihr bei<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[503/0523] §. 47. Allgemeine Charakteriſtik des Reichstages. ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers ſei, dem er ſeine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theore- tiſche Betrachtung ergiebt ſich aber dieſer Satz lediglich als eine logiſche Conſequenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Princips. Ebenſo wenig wie die Reichstagsmitglieder an Aufträge und Inſtruktionen der einzelnen Wahlkörper gebunden ſind, ebenſowenig ſind ſie an Aufträge und Inſtruktionen des „geſammten Volkes“ gebunden; ſie ſind überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie dieſer Ausdruck im Art 6 von den Bundesraths-Mitgliedern und wie er in der Rechtswiſſenſchaft techniſch gebraucht wird; ſie haben keine Vollmacht und keinen Auftrag und zwar deshalb nicht, weil es an einem Rechtsſubjekt fehlt, welches ihnen Vollmacht oder Auftrag ertheilen könnte. Die einzelnen Staaten ſind Rechts- ſubjekte, deshalb können ſie im Bundesrath durch Vertreter ihre Rechte und ihren Willen geltend machen. Das geſammte Deutſche Volk hat keine vom Deutſchen Reiche verſchiedene und ihm gegen- über ſelbſtſtändige Perſönlichkeit, iſt kein Rechtsſubjekt und hat juriſtiſch keinen Willen; es iſt daher außer Stande, eine Vollmacht oder einen Auftrag zu ertheilen und Rechte oder Willensacte durch Vertreter auszuüben. Eine poſitive juriſtiſche Bedeutung hat die Be- zeichnung der Reichstagsmitglieder als Vertreter des geſammten Volkes daher nicht; im juriſtiſchen Sinne ſind die Reichstagsmit- glieder Niemandes Vertreter; ihre Befugniſſe ſind nicht von einem anderen Rechtsſubjekt abgeleitete; es giebt keinen einzigen Punkt in der ganzen Rechtsſtellung der Reichstagsmitglieder, der von den Rechtsgrundſätzen über Stellvertretung, Vollmacht oder Man- dat beherrſcht würde. Der Sinn der Redewendung, daß die Mit- glieder des Reichstages Vertreter des geſammten Volkes ſind, iſt vielmehr ausſchließlich ein politiſcher. Der Ausdruck will ſagen: Der Reichstag iſt dasjenige Organ, durch welches der Antheil der Reichsangehörigen an den Willensentſchlüſſen und der Lebensthätig- keit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kaiſer und Bundesrath hat das Reich noch ein drittes Organ, durch welches jeder einzelne (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf die Politik des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, in- dem er nach den Regeln des Wahlgeſetzes bei der Zuſammen- ſetzung dieſes Organes perſönlich mitzuwirken befugt iſt. Mit dieſer Befugniß iſt ſein Recht aber erſchöpft, mag er von ihr bei

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/523
Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/523>, abgerufen am 08.05.2024.