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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.
23. Dezember 1874 (Rg.-Bl. S. 194. 195.) gemacht worden. Die
vom Reichstage zur Vorberathung der Entwürfe eines Gerichts-
verfassungsgesetzes, einer Strafproceß-Ordnung und einer Civil-
proceß-Ordnung eingesetzte Kommission wurde ermächtigt, ihre Ver-
handlungen nach dem Schlusse der Session des Reichstages
bis zum Beginn der nächsten ordentlichen Session desselben fortzu-
setzen, und im §. 4 desselben Gesetzes wurde bestimmt, daß der
Reichstag in einer der folgenden Sessionen der gegenwärtigen Le-
gislaturperiode in die weitere Berathung der genannten Gesetz-
entwürfe eintritt. Es sind also hier in Bezug auf die geschäftliche
Behandlung dieser Vorlagen ausnahmsweise die mit der Schließung
des Reichstages verbundenen Wirkungen auf das Maaß zurückgeführt
worden, welches sonst denen der Vertagung des Reichstages zukömmt.

3) Der Reichstag darf ohne Genehmigung des Kaisers sich
nicht trennen oder seine Thätigkeit unterbrechen. Das Recht
der Vertagung und Schließung steht ausschließlich dem Kaiser zu.
Nur im nicht technischen Sinne wird der Ausdruck "Vertagung"
auch angewendet, wenn der Reichstag eine einzelne Sitzung vor
völliger Erledigung der Tagesordnung abbricht oder die nächste
Sitzung um einige Tage hinausschiebt 1).

4) Der Reichstag kann vor Ablauf der Legislatur-Periode
aufgelöst werden. Die Auflösung erfolgt durch eine kaiserliche
Verordnung, welche nur auf Grund eines vom Bundesrathe unter
Zustimmung des Kaisers gefaßten Beschlusses erlassen werden
kann 2). Wird der Reichstag aufgelöst, so müssen innerhalb eines
Zeitraumes von 60 Tagen nach der Auflösung die Neuwahlen
stattfinden und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach
der Auflösung muß der Reichstag versammelt werden 3). Die
Wirkung der Auflösung besteht darin, daß dadurch die sogenannten
Reichstagsmandate erlöschen, d. h. daß die durch die Wahl erfolgte
Berufung zum Reichstags-Mitgliede ein Ende findet. Die Auf-
lösung kann daher auch erfolgen, wenn der Reichstag nicht ver-
sammelt ist. Ist derselbe versammelt, so hat die Auflösung ipso

1) Gesch.-Ordn. §. 34. "Der Präsident eröffnet und schließt die Sitzung;
er verkündet Tag und Stunde der nächsten Sitzung."
2) R.-V. Art. 24. Vrgl. die Eingangsformel zur Verordn. v. 29. Nov.
1873. (RG.-Bl. S. 371).
3) R.-V. Art. 25.

§. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages.
23. Dezember 1874 (Rg.-Bl. S. 194. 195.) gemacht worden. Die
vom Reichstage zur Vorberathung der Entwürfe eines Gerichts-
verfaſſungsgeſetzes, einer Strafproceß-Ordnung und einer Civil-
proceß-Ordnung eingeſetzte Kommiſſion wurde ermächtigt, ihre Ver-
handlungen nach dem Schluſſe der Seſſion des Reichstages
bis zum Beginn der nächſten ordentlichen Seſſion deſſelben fortzu-
ſetzen, und im §. 4 deſſelben Geſetzes wurde beſtimmt, daß der
Reichstag in einer der folgenden Seſſionen der gegenwärtigen Le-
gislaturperiode in die weitere Berathung der genannten Geſetz-
entwürfe eintritt. Es ſind alſo hier in Bezug auf die geſchäftliche
Behandlung dieſer Vorlagen ausnahmsweiſe die mit der Schließung
des Reichstages verbundenen Wirkungen auf das Maaß zurückgeführt
worden, welches ſonſt denen der Vertagung des Reichstages zukömmt.

3) Der Reichstag darf ohne Genehmigung des Kaiſers ſich
nicht trennen oder ſeine Thätigkeit unterbrechen. Das Recht
der Vertagung und Schließung ſteht ausſchließlich dem Kaiſer zu.
Nur im nicht techniſchen Sinne wird der Ausdruck „Vertagung“
auch angewendet, wenn der Reichstag eine einzelne Sitzung vor
völliger Erledigung der Tagesordnung abbricht oder die nächſte
Sitzung um einige Tage hinausſchiebt 1).

4) Der Reichstag kann vor Ablauf der Legislatur-Periode
aufgelöſt werden. Die Auflöſung erfolgt durch eine kaiſerliche
Verordnung, welche nur auf Grund eines vom Bundesrathe unter
Zuſtimmung des Kaiſers gefaßten Beſchluſſes erlaſſen werden
kann 2). Wird der Reichstag aufgelöſt, ſo müſſen innerhalb eines
Zeitraumes von 60 Tagen nach der Auflöſung die Neuwahlen
ſtattfinden und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach
der Auflöſung muß der Reichstag verſammelt werden 3). Die
Wirkung der Auflöſung beſteht darin, daß dadurch die ſogenannten
Reichstagsmandate erlöſchen, d. h. daß die durch die Wahl erfolgte
Berufung zum Reichstags-Mitgliede ein Ende findet. Die Auf-
löſung kann daher auch erfolgen, wenn der Reichstag nicht ver-
ſammelt iſt. Iſt derſelbe verſammelt, ſo hat die Auflöſung ipso

1) Geſch.-Ordn. §. 34. „Der Präſident eröffnet und ſchließt die Sitzung;
er verkündet Tag und Stunde der nächſten Sitzung.“
2) R.-V. Art. 24. Vrgl. die Eingangsformel zur Verordn. v. 29. Nov.
1873. (RG.-Bl. S. 371).
3) R.-V. Art. 25.
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[558/0578] §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages. 23. Dezember 1874 (Rg.-Bl. S. 194. 195.) gemacht worden. Die vom Reichstage zur Vorberathung der Entwürfe eines Gerichts- verfaſſungsgeſetzes, einer Strafproceß-Ordnung und einer Civil- proceß-Ordnung eingeſetzte Kommiſſion wurde ermächtigt, ihre Ver- handlungen nach dem Schluſſe der Seſſion des Reichstages bis zum Beginn der nächſten ordentlichen Seſſion deſſelben fortzu- ſetzen, und im §. 4 deſſelben Geſetzes wurde beſtimmt, daß der Reichstag in einer der folgenden Seſſionen der gegenwärtigen Le- gislaturperiode in die weitere Berathung der genannten Geſetz- entwürfe eintritt. Es ſind alſo hier in Bezug auf die geſchäftliche Behandlung dieſer Vorlagen ausnahmsweiſe die mit der Schließung des Reichstages verbundenen Wirkungen auf das Maaß zurückgeführt worden, welches ſonſt denen der Vertagung des Reichstages zukömmt. 3) Der Reichstag darf ohne Genehmigung des Kaiſers ſich nicht trennen oder ſeine Thätigkeit unterbrechen. Das Recht der Vertagung und Schließung ſteht ausſchließlich dem Kaiſer zu. Nur im nicht techniſchen Sinne wird der Ausdruck „Vertagung“ auch angewendet, wenn der Reichstag eine einzelne Sitzung vor völliger Erledigung der Tagesordnung abbricht oder die nächſte Sitzung um einige Tage hinausſchiebt 1). 4) Der Reichstag kann vor Ablauf der Legislatur-Periode aufgelöſt werden. Die Auflöſung erfolgt durch eine kaiſerliche Verordnung, welche nur auf Grund eines vom Bundesrathe unter Zuſtimmung des Kaiſers gefaßten Beſchluſſes erlaſſen werden kann 2). Wird der Reichstag aufgelöſt, ſo müſſen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach der Auflöſung die Neuwahlen ſtattfinden und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach der Auflöſung muß der Reichstag verſammelt werden 3). Die Wirkung der Auflöſung beſteht darin, daß dadurch die ſogenannten Reichstagsmandate erlöſchen, d. h. daß die durch die Wahl erfolgte Berufung zum Reichstags-Mitgliede ein Ende findet. Die Auf- löſung kann daher auch erfolgen, wenn der Reichstag nicht ver- ſammelt iſt. Iſt derſelbe verſammelt, ſo hat die Auflöſung ipso 1) Geſch.-Ordn. §. 34. „Der Präſident eröffnet und ſchließt die Sitzung; er verkündet Tag und Stunde der nächſten Sitzung.“ 2) R.-V. Art. 24. Vrgl. die Eingangsformel zur Verordn. v. 29. Nov. 1873. (RG.-Bl. S. 371). 3) R.-V. Art. 25.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/578>, abgerufen am 27.04.2024.