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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
eine Erweiterung erfahren durch das Gesetz vom 12. Juni 1869
über die Errichtung des Oberhandelsgerichts 1). Daß auch das
Gesetz vom 6. März 1875, betreffend Maßregeln gegen die Reb-
lauskrankheit, die im Art. 4 normirte Competenz überschreitet, ist
kaum zweifelhaft 2). Ganz offenbar aber ist es, daß Art. 1 der
R.-V. durch das Ges. v. 9. Juni 1871 betreffend die Vereinigung
von Els.-Lothr. mit dem Deutschen Reiche und Art. 20 Abs. 2 und
Art. 40 der R.-V. durch das Ges. v. 25. Juni 1873 betreffend
die Einführung der Verf. des Deutschen Reichs in Els.-Lothr. ma-
teriell abgeändert worden sind, obgleich diese Veränderungen im
Text der Verfassung keinen Ausdruck gefunden haben. Ferner hat
das Ges. v. 21. Juli 1870 die Legislatur-Periode des damaligen
Reichstages über die im Art. 24 der R.-V. festgesetzte Dauer
verlängert.

Endlich ist Art. 50 Abs. 2 der R.-V. durch das Postges. v.
28. Oktob. 1871 § 50 modifizirt worden 3).

Wenn man hiernach anerkennen muß, daß unter Beobachtung
der im Art. 78 aufgestellten Erfordernisse verfassungsändernde Ge-
setze erlassen werden können, ohne daß der Wortlaut der Verfas-
sungs-Urkunde eine Abänderung erfährt, so entsteht die weitere
Frage, ob solche Gesetze ebenfalls nur unter Beobachtung der im
Art. 78 Abs. 1 gegebenen Vorschrift abgeändert werden können
oder ob hierzu ein von der einfachen Majorität des Bundesrathes
sanctionirtes Gesetz genügt. Diese Frage ist im letzteren Sinne
zu entscheiden 4). Denn die erschwerende Bedingung des Art. 78
Abs. 1 setzt Anordnungen voraus, welche formell Bestandtheile der
Verfassungs-Urkunde geworden oder an die Stelle solcher Be-

1) Vgl. darüber die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses 1869/70.
Stenogr. Berichte S. 59.
2) Vgl. Protokoll des Bundesrathes 1875 § 170.
3) Hänel, a. a. O. Auch das Gesetz v. 25. Mai 1873 über die Rechts-
verhältnisse der zum dienstlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung bestimmten
Gegenstände ist nach der Ansicht von Seydel (in Behrend's Zeitschrift f. die
Deutsche Gesetzgebung Bd. VII. S. 234) außerhalb der verfassungsmäßigen
Reichscompetenz erlassen.
4) In demselben Sinne äußern sich: Thudichum, Verfassungsr. S.
84 und Westerkamp S. 135. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Hänel
S. 255 Note 6. Keine Beantwortung der Frage enthalten die Bemerkungen
v. Mohl's S. 158.

§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
eine Erweiterung erfahren durch das Geſetz vom 12. Juni 1869
über die Errichtung des Oberhandelsgerichts 1). Daß auch das
Geſetz vom 6. März 1875, betreffend Maßregeln gegen die Reb-
lauskrankheit, die im Art. 4 normirte Competenz überſchreitet, iſt
kaum zweifelhaft 2). Ganz offenbar aber iſt es, daß Art. 1 der
R.-V. durch das Geſ. v. 9. Juni 1871 betreffend die Vereinigung
von Elſ.-Lothr. mit dem Deutſchen Reiche und Art. 20 Abſ. 2 und
Art. 40 der R.-V. durch das Geſ. v. 25. Juni 1873 betreffend
die Einführung der Verf. des Deutſchen Reichs in Elſ.-Lothr. ma-
teriell abgeändert worden ſind, obgleich dieſe Veränderungen im
Text der Verfaſſung keinen Ausdruck gefunden haben. Ferner hat
das Geſ. v. 21. Juli 1870 die Legislatur-Periode des damaligen
Reichstages über die im Art. 24 der R.-V. feſtgeſetzte Dauer
verlängert.

Endlich iſt Art. 50 Abſ. 2 der R.-V. durch das Poſtgeſ. v.
28. Oktob. 1871 § 50 modifizirt worden 3).

Wenn man hiernach anerkennen muß, daß unter Beobachtung
der im Art. 78 aufgeſtellten Erforderniſſe verfaſſungsändernde Ge-
ſetze erlaſſen werden können, ohne daß der Wortlaut der Verfaſ-
ſungs-Urkunde eine Abänderung erfährt, ſo entſteht die weitere
Frage, ob ſolche Geſetze ebenfalls nur unter Beobachtung der im
Art. 78 Abſ. 1 gegebenen Vorſchrift abgeändert werden können
oder ob hierzu ein von der einfachen Majorität des Bundesrathes
ſanctionirtes Geſetz genügt. Dieſe Frage iſt im letzteren Sinne
zu entſcheiden 4). Denn die erſchwerende Bedingung des Art. 78
Abſ. 1 ſetzt Anordnungen voraus, welche formell Beſtandtheile der
Verfaſſungs-Urkunde geworden oder an die Stelle ſolcher Be-

1) Vgl. darüber die Verhandlungen des Preußiſchen Herrenhauſes 1869/70.
Stenogr. Berichte S. 59.
2) Vgl. Protokoll des Bundesrathes 1875 § 170.
3) Hänel, a. a. O. Auch das Geſetz v. 25. Mai 1873 über die Rechts-
verhältniſſe der zum dienſtlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung beſtimmten
Gegenſtände iſt nach der Anſicht von Seydel (in Behrend’s Zeitſchrift f. die
Deutſche Geſetzgebung Bd. VII. S. 234) außerhalb der verfaſſungsmäßigen
Reichscompetenz erlaſſen.
4) In demſelben Sinne äußern ſich: Thudichum, Verfaſſungsr. S.
84 und Weſterkamp S. 135. Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Hänel
S. 255 Note 6. Keine Beantwortung der Frage enthalten die Bemerkungen
v. Mohl’s S. 158.
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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/54>, abgerufen am 26.04.2024.