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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
nur die Behörden und Beamten, sondern alle unter der Herrschaft
der Gesetze lebenden Personen müssen die Gesetze befolgen und bei
ihren Rechtsgeschäften und bei allen Handlungen und Unterlassun-
gen nach den bestehenden Gesetzen sich richten. Der Grundsatz
ignorantia iuris nocet macht es Jedem ohne Ausnahme zur Pflicht,
zu prüfen, welche Gesetze bestehen. Wer einen sich als Gesetz aus-
gebenden Erlaß, dem keine Gesetzeskraft zukömmt, als Gesetz an-
sieht und darnach handelt, kann die Folgen einer Gesetzes-Ver-
letzung auf sich laden, insofern er diejenigen Gesetze verletzt, welche
er durch jenen Erlaß irrthümlich für aufgehoben erachtet. Die
Frage wird daher ganz falsch und in vollkommen irreführender
Weise gestellt, wenn man sie auf das richterliche Prüfungsrecht
der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze richtet. Die Frage ist viel-
mehr die, ob es überhaupt formelle Kriterien gibt, an welchen
die rechtswirksame Existenz eines Gesetzes erkannt werden kann,
oder ob ein Gesetz nur dann Geltung hat, wenn materiell alle
für das Zustandekommen eines Gesetzes gegebenen Regeln befolgt
sind. Ein Gesetz kann nicht zugleich für die Gerichte unverbindlich
und für alle anderen Behörden und Unterthanen verbindlich sein,
sondern es kann nur absolut, d. h. für Alle, die unter seiner Herr-
schaft stehen, entweder gültig oder ungültig sein. Es bedarf keiner
Ausführung, welche politischen Nachtheile, welche Störung der
Rechtssicherheit, welche Gefährdung der staatlichen Ordnung mit
dem Grundsatz verknüpft wären, daß Jeder in jedem Falle auf
eigene Gefahr die Untersuchung vornehmen müsse, ob ein Gesetz
in verfassungsmäßiger Weise zu Stande gekommen ist 1). Die

1) v. Mohl, Staatsrecht, Völkerr. Polit. I. S. 93 fg., meint ganz naiv,
daß wenn der "einfache Bürger" einem von ihm für verfassungswidrig gehal-
tenen Gesetze den Gehorsam verweigert, dies nur als ein "erfreuliches Zeichen
staatlicher Durchbildung und männlicher Gesinnung betrachtet werden könne."
"Fast möchte man so weit gehen, zu behaupten, daß selbst ein Mißgriff
von Seiten eines Bürgers nicht viel weniger erfreulich sei (!), indem einer-
seits die Gesinnung sich als die nämliche erweise, auf der andern Seite die
Staatsgewalt durch Aufrechterhaltung ihres Rechtes, zum mindesten gesagt,
nichts verliere." Wie aber, wenn einige Millionen einfacher Bürger einen
solchen "erfreulichen" Mißgriff thun und dem Gesetz den Gehorsam versagen?
Oder wenn der einfache Bürger ein ordnungsmäßig verkündetes Gesetz befolgt
und nachher, durch Richterspruch über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes
belehrt, zu spät zu seinem Schaden erkennt, daß es ihm an "staatlicher Durch-
bildung und männlicher Gesinnung" fehlt?

§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
nur die Behörden und Beamten, ſondern alle unter der Herrſchaft
der Geſetze lebenden Perſonen müſſen die Geſetze befolgen und bei
ihren Rechtsgeſchäften und bei allen Handlungen und Unterlaſſun-
gen nach den beſtehenden Geſetzen ſich richten. Der Grundſatz
ignorantia iuris nocet macht es Jedem ohne Ausnahme zur Pflicht,
zu prüfen, welche Geſetze beſtehen. Wer einen ſich als Geſetz aus-
gebenden Erlaß, dem keine Geſetzeskraft zukömmt, als Geſetz an-
ſieht und darnach handelt, kann die Folgen einer Geſetzes-Ver-
letzung auf ſich laden, inſofern er diejenigen Geſetze verletzt, welche
er durch jenen Erlaß irrthümlich für aufgehoben erachtet. Die
Frage wird daher ganz falſch und in vollkommen irreführender
Weiſe geſtellt, wenn man ſie auf das richterliche Prüfungsrecht
der Verfaſſungsmäßigkeit der Geſetze richtet. Die Frage iſt viel-
mehr die, ob es überhaupt formelle Kriterien gibt, an welchen
die rechtswirkſame Exiſtenz eines Geſetzes erkannt werden kann,
oder ob ein Geſetz nur dann Geltung hat, wenn materiell alle
für das Zuſtandekommen eines Geſetzes gegebenen Regeln befolgt
ſind. Ein Geſetz kann nicht zugleich für die Gerichte unverbindlich
und für alle anderen Behörden und Unterthanen verbindlich ſein,
ſondern es kann nur abſolut, d. h. für Alle, die unter ſeiner Herr-
ſchaft ſtehen, entweder gültig oder ungültig ſein. Es bedarf keiner
Ausführung, welche politiſchen Nachtheile, welche Störung der
Rechtsſicherheit, welche Gefährdung der ſtaatlichen Ordnung mit
dem Grundſatz verknüpft wären, daß Jeder in jedem Falle auf
eigene Gefahr die Unterſuchung vornehmen müſſe, ob ein Geſetz
in verfaſſungsmäßiger Weiſe zu Stande gekommen iſt 1). Die

1) v. Mohl, Staatsrecht, Völkerr. Polit. I. S. 93 fg., meint ganz naiv,
daß wenn der „einfache Bürger“ einem von ihm für verfaſſungswidrig gehal-
tenen Geſetze den Gehorſam verweigert, dies nur als ein „erfreuliches Zeichen
ſtaatlicher Durchbildung und männlicher Geſinnung betrachtet werden könne.“
„Faſt möchte man ſo weit gehen, zu behaupten, daß ſelbſt ein Mißgriff
von Seiten eines Bürgers nicht viel weniger erfreulich ſei (!), indem einer-
ſeits die Geſinnung ſich als die nämliche erweiſe, auf der andern Seite die
Staatsgewalt durch Aufrechterhaltung ihres Rechtes, zum mindeſten geſagt,
nichts verliere.“ Wie aber, wenn einige Millionen einfacher Bürger einen
ſolchen „erfreulichen“ Mißgriff thun und dem Geſetz den Gehorſam verſagen?
Oder wenn der einfache Bürger ein ordnungsmäßig verkündetes Geſetz befolgt
und nachher, durch Richterſpruch über die Verfaſſungswidrigkeit des Geſetzes
belehrt, zu ſpät zu ſeinem Schaden erkennt, daß es ihm an „ſtaatlicher Durch-
bildung und männlicher Geſinnung“ fehlt?
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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/59>, abgerufen am 27.04.2024.