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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
tung jener Vermuthung notorisch geworden ist. Es kann nun
der Fall, daß der Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers
ein Gesetz verkündigen läßt mit der ausdrücklichen Versicherung,
daß dasselbe die Zustimmung des Reichstages und Bundesrathes
erhalten habe, während in Wahrheit das Gesetz von einer dieser
Körperschaften oder von beiden gar nicht genehmigt worden ist,
als thatsächlich unmöglich bezeichnet werden. Wer könnte ernstlich
die Eventualität erörtern wollen, daß Kaiser und Reichskanzler
sich zu einer so dreisten, öffentlichen Lüge verbinden? Dies sind
gänzlich unpraktische "Doktorfragen". Von praktischer Wichtigkeit
ist dagegen der Fall, wenn es in Zweifel gezogen wird, ob die
Abstimmung des Reichstages gemäß Art. 28 und die Beschluß-
fassung des Bundesrathes gemäß Art. 5. 7. 37. 78. der R.-V.
erfolgt ist.

Soll der Richter also verpflichtet und berechtigt sein, zu unter-
suchen, ob der Reichstag, als er das Gesetz genehmigte, beschluß-
fähig war und ob sich in Wahrheit die absolute Majorität für
dasselbe erhoben hat; soll er etwa auf Grund von Zeugen-Aus-
sagen feststellen, daß die verfassungsmäßig erforderliche Zustim-
mung nicht ertheilt worden ist? Gneist a. a. O., dem zahlreiche
Anhänger folgen, bricht seiner eigenen Theorie die praktische Spitze
ab, indem er den im englischen Recht geltenden Grundsatz
zur Anwendung bringt, daß dies interna corporis seien, über
welche das Parlament wie jede Korporation selbst zu entscheiden
habe; dadurch sei die Kognition der Gerichte ausgeschlossen. Dieser
Grund aber ist unzutreffend, auch abgesehen davon, ob man die
Volksvertretung in Deutschland in irgend einer Beziehung einer
universitas ordinata vergleichen darf. Denn theils können die
Gerichte unzweifelhaft darüber entscheiden, ob ein Korporations-
Veschluß statutengemäß gefaßt und gültig oder unter Verletzung
der Statuten zu Standen gekommen und deshalb null und nichtig
sei; theils sind die Bestimmungen der Reichsverfassung über die
Beschlußfassung des Reichstages keine bloße Geschäfts-Ordnung
des Reichstages, die dessen Autonomie unterliegen oder deren Be-
folgung in dem Ermessen des Reichstages stünde; es handelt sich
hierbei nicht um interna des Reichstages, sondern um das öffent-
liche Recht des Reiches.

Ganz Unmögliches aber würde dem Richter zugemuthet wer-

§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
tung jener Vermuthung notoriſch geworden iſt. Es kann nun
der Fall, daß der Kaiſer unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers
ein Geſetz verkündigen läßt mit der ausdrücklichen Verſicherung,
daß daſſelbe die Zuſtimmung des Reichstages und Bundesrathes
erhalten habe, während in Wahrheit das Geſetz von einer dieſer
Körperſchaften oder von beiden gar nicht genehmigt worden iſt,
als thatſächlich unmöglich bezeichnet werden. Wer könnte ernſtlich
die Eventualität erörtern wollen, daß Kaiſer und Reichskanzler
ſich zu einer ſo dreiſten, öffentlichen Lüge verbinden? Dies ſind
gänzlich unpraktiſche „Doktorfragen“. Von praktiſcher Wichtigkeit
iſt dagegen der Fall, wenn es in Zweifel gezogen wird, ob die
Abſtimmung des Reichstages gemäß Art. 28 und die Beſchluß-
faſſung des Bundesrathes gemäß Art. 5. 7. 37. 78. der R.-V.
erfolgt iſt.

Soll der Richter alſo verpflichtet und berechtigt ſein, zu unter-
ſuchen, ob der Reichstag, als er das Geſetz genehmigte, beſchluß-
fähig war und ob ſich in Wahrheit die abſolute Majorität für
daſſelbe erhoben hat; ſoll er etwa auf Grund von Zeugen-Aus-
ſagen feſtſtellen, daß die verfaſſungsmäßig erforderliche Zuſtim-
mung nicht ertheilt worden iſt? Gneiſt a. a. O., dem zahlreiche
Anhänger folgen, bricht ſeiner eigenen Theorie die praktiſche Spitze
ab, indem er den im engliſchen Recht geltenden Grundſatz
zur Anwendung bringt, daß dies interna corporis ſeien, über
welche das Parlament wie jede Korporation ſelbſt zu entſcheiden
habe; dadurch ſei die Kognition der Gerichte ausgeſchloſſen. Dieſer
Grund aber iſt unzutreffend, auch abgeſehen davon, ob man die
Volksvertretung in Deutſchland in irgend einer Beziehung einer
universitas ordinata vergleichen darf. Denn theils können die
Gerichte unzweifelhaft darüber entſcheiden, ob ein Korporations-
Veſchluß ſtatutengemäß gefaßt und gültig oder unter Verletzung
der Statuten zu Standen gekommen und deshalb null und nichtig
ſei; theils ſind die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung über die
Beſchlußfaſſung des Reichstages keine bloße Geſchäfts-Ordnung
des Reichstages, die deſſen Autonomie unterliegen oder deren Be-
folgung in dem Ermeſſen des Reichstages ſtünde; es handelt ſich
hierbei nicht um interna des Reichstages, ſondern um das öffent-
liche Recht des Reiches.

Ganz Unmögliches aber würde dem Richter zugemuthet wer-

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[47/0061] §. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung. tung jener Vermuthung notoriſch geworden iſt. Es kann nun der Fall, daß der Kaiſer unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers ein Geſetz verkündigen läßt mit der ausdrücklichen Verſicherung, daß daſſelbe die Zuſtimmung des Reichstages und Bundesrathes erhalten habe, während in Wahrheit das Geſetz von einer dieſer Körperſchaften oder von beiden gar nicht genehmigt worden iſt, als thatſächlich unmöglich bezeichnet werden. Wer könnte ernſtlich die Eventualität erörtern wollen, daß Kaiſer und Reichskanzler ſich zu einer ſo dreiſten, öffentlichen Lüge verbinden? Dies ſind gänzlich unpraktiſche „Doktorfragen“. Von praktiſcher Wichtigkeit iſt dagegen der Fall, wenn es in Zweifel gezogen wird, ob die Abſtimmung des Reichstages gemäß Art. 28 und die Beſchluß- faſſung des Bundesrathes gemäß Art. 5. 7. 37. 78. der R.-V. erfolgt iſt. Soll der Richter alſo verpflichtet und berechtigt ſein, zu unter- ſuchen, ob der Reichstag, als er das Geſetz genehmigte, beſchluß- fähig war und ob ſich in Wahrheit die abſolute Majorität für daſſelbe erhoben hat; ſoll er etwa auf Grund von Zeugen-Aus- ſagen feſtſtellen, daß die verfaſſungsmäßig erforderliche Zuſtim- mung nicht ertheilt worden iſt? Gneiſt a. a. O., dem zahlreiche Anhänger folgen, bricht ſeiner eigenen Theorie die praktiſche Spitze ab, indem er den im engliſchen Recht geltenden Grundſatz zur Anwendung bringt, daß dies interna corporis ſeien, über welche das Parlament wie jede Korporation ſelbſt zu entſcheiden habe; dadurch ſei die Kognition der Gerichte ausgeſchloſſen. Dieſer Grund aber iſt unzutreffend, auch abgeſehen davon, ob man die Volksvertretung in Deutſchland in irgend einer Beziehung einer universitas ordinata vergleichen darf. Denn theils können die Gerichte unzweifelhaft darüber entſcheiden, ob ein Korporations- Veſchluß ſtatutengemäß gefaßt und gültig oder unter Verletzung der Statuten zu Standen gekommen und deshalb null und nichtig ſei; theils ſind die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung über die Beſchlußfaſſung des Reichstages keine bloße Geſchäfts-Ordnung des Reichstages, die deſſen Autonomie unterliegen oder deren Be- folgung in dem Ermeſſen des Reichstages ſtünde; es handelt ſich hierbei nicht um interna des Reichstages, ſondern um das öffent- liche Recht des Reiches. Ganz Unmögliches aber würde dem Richter zugemuthet wer-

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/61>, abgerufen am 27.04.2024.