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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

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§. 58. Gesetze im formellen Sinne.
und neben wirklichen Rechtssätzen Verwaltungsvorschriften, Finanz-
maßregeln, Ermächtigungen u. s. w. enthalten. Es giebt mit einem
Worte keinen Gegenstand des gesammten staatlichen Lebens, wel-
cher nicht zum Inhalte eines Gesetzes gemacht werden könnte.

Gesetz im materiellen Sinne und Gesetz im formellen Sinne
verhalten sich daher zu einander nicht wie Gattung und Art, wie
ein weiterer und ein ihm untergeordneter engerer Begriff; sondern
es sind zwei durchaus verschiedene Begriffe, von denen jeder
durch ein anderes Merkmal bestimmt wird; der eine durch
den Inhalt, der andere durch die Form einer Willenserklä-
rung 1). Ein Staatsgesetz im formellen Sinne ist ein Willensact
des Staates, der in einer bestimmten feierlichen Weise zu Stande
gekommen und erklärt worden ist 2). Den gemeinsamen Ausgangs-
punkt für beide Begriffe, der die Verwendung desselben Ausdrucks
für zwei so verschiedene Dinge erklärt, bildet der Satz, daß An-
ordnungen von Rechtssätzen der Regel nach nur auf dem verfas-
sungsmäßig bestimmten Wege erfolgen dürfen, der deshalb der
Weg der Gesetzgebung heißt.

Aus diesen Erörterungen ergiebt sich, in welcher Hinsicht Ge-

1) Eine ausführliche Entwicklung des Gegensatzes zwischen materiellen und
formellen Gesetzen habe ich gegeben in meiner Schrift über das Budget-
recht
(Berlin 1871) S. 3--11. Vgl. ferner Schulze, Preuß. Staatsr. II.
S. 205 ff.; Ernst Meier in v. Holtzendorff's Encyclopädie I. (3. Aufl.)
S. 882 und E. A. Chr. (v. Stockmar) in Aegidi's Zeitschrift für deutsches
Staatsr. I. S. 209 (1867).
2) In der Erklärung der Menschenrechte vom 26. Aug. 1789 Art. 6 heißt
es: La loi est l'expression de la volonte generale. In ähnlicher Weise desi-
nirt Portalis: "La loi est une declaration solennelle de la volonte du
Souverain sur un objet d'interet commun." (Locre, Legislat. de la
France I. S. 266 Nr. 21). Merlin, Repertoire Art. Loi §. II. (Tome XVIII.
p. 384 sq.)
setzt ausführlich auseinander, daß nicht jede Erklärung des pou-
voir legislatif
einen Rechtssatz schaffe, dennoch aber als Gesetz anzuerkennen
sei, denn die constituirende Versammlung habe durch Decret vom 9. Nov. 1789
beschlossen, que tous ses decrets, qui seraient revetus de la sanction royale
portassent indistinctement le nom et l'intitule de Lois."
Die Verfassung
v. 5. Fructidor des Jahres III. Art. 92 sagt: "Les resolutions du Conseil
des Cinqcents adoptees pour le Conseil des Anciens s'appellent Lois".

Dieser formelle Begriff des Gesetzes ist in der neueren französischen Literatur
der ausschließlich herrschende, nur daß natürlich die Erfordernisse mit jeder
Verfassungs-Aenderung wechseln.

§. 58. Geſetze im formellen Sinne.
und neben wirklichen Rechtsſätzen Verwaltungsvorſchriften, Finanz-
maßregeln, Ermächtigungen u. ſ. w. enthalten. Es giebt mit einem
Worte keinen Gegenſtand des geſammten ſtaatlichen Lebens, wel-
cher nicht zum Inhalte eines Geſetzes gemacht werden könnte.

Geſetz im materiellen Sinne und Geſetz im formellen Sinne
verhalten ſich daher zu einander nicht wie Gattung und Art, wie
ein weiterer und ein ihm untergeordneter engerer Begriff; ſondern
es ſind zwei durchaus verſchiedene Begriffe, von denen jeder
durch ein anderes Merkmal beſtimmt wird; der eine durch
den Inhalt, der andere durch die Form einer Willenserklä-
rung 1). Ein Staatsgeſetz im formellen Sinne iſt ein Willensact
des Staates, der in einer beſtimmten feierlichen Weiſe zu Stande
gekommen und erklärt worden iſt 2). Den gemeinſamen Ausgangs-
punkt für beide Begriffe, der die Verwendung deſſelben Ausdrucks
für zwei ſo verſchiedene Dinge erklärt, bildet der Satz, daß An-
ordnungen von Rechtsſätzen der Regel nach nur auf dem verfaſ-
ſungsmäßig beſtimmten Wege erfolgen dürfen, der deshalb der
Weg der Geſetzgebung heißt.

Aus dieſen Erörterungen ergiebt ſich, in welcher Hinſicht Ge-

1) Eine ausführliche Entwicklung des Gegenſatzes zwiſchen materiellen und
formellen Geſetzen habe ich gegeben in meiner Schrift über das Budget-
recht
(Berlin 1871) S. 3—11. Vgl. ferner Schulze, Preuß. Staatsr. II.
S. 205 ff.; Ernſt Meier in v. Holtzendorff’s Encyclopädie I. (3. Aufl.)
S. 882 und E. A. Chr. (v. Stockmar) in Aegidi’s Zeitſchrift für deutſches
Staatsr. I. S. 209 (1867).
2) In der Erklärung der Menſchenrechte vom 26. Aug. 1789 Art. 6 heißt
es: La loi est l’expression de la volonté générale. In ähnlicher Weiſe deſi-
nirt Portalis: »La loi est une déclaration solennelle de la volonté du
Souverain sur un objet d’intérêt commun.« (Locré, Legislat. de la
France I. S. 266 Nr. 21). Merlin, Répertoire Art. Loi §. II. (Tome XVIII.
p. 384 ſq.)
ſetzt ausführlich auseinander, daß nicht jede Erklärung des pou-
voir législatif
einen Rechtsſatz ſchaffe, dennoch aber als Geſetz anzuerkennen
ſei, denn die conſtituirende Verſammlung habe durch Decret vom 9. Nov. 1789
beſchloſſen, que tous ses décrets, qui seraient revêtus de la sanction royale
portassent indistinctement le nom et l’intitulé de Lois.«
Die Verfaſſung
v. 5. Fructidor des Jahres III. Art. 92 ſagt: »Les resolutions du Conseil
des Cinqcents adoptées pour le Conseil des Anciens s’appellent Lois«.

Dieſer formelle Begriff des Geſetzes iſt in der neueren franzöſiſchen Literatur
der ausſchließlich herrſchende, nur daß natürlich die Erforderniſſe mit jeder
Verfaſſungs-Aenderung wechſeln.
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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/75>, abgerufen am 28.04.2024.