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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882.

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§. 102. Die Staatsanwaltschaft.
ihnen gemeinsam vorgesetzte Beamte der Staatsanwaltschaft 1); in
Ermangelung eines solchen der Oberreichsanwalt 2).

VI. Nach dem Gerichtsverfassungs-Gesetz §. 151 ist die
Staatsanwaltschaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten
unabhängig und eine in sich geschlossene und einheitlich geleitete
Behörde; durch die Strafprozeß-Ordnung ist jedoch dieses Prinzip
durchbrochen worden.

Es gilt für die Betreibung der Strafverfolgung Seitens der
Staatsanwaltschaft das sogenannte Legalitätsprinzip; d. h.
die Frage, ob eine Strafverfolgung eintreten soll oder nicht, ist
nicht nach Zweckmäßigkeitsrücksichten, politischen Erwägungen u. dgl.
zu entscheiden, sondern die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet,
soweit nicht gesetzlich ein Anderes bestimmt ist, wegen aller ge-
richtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen "einzuschreiten",
sofern zureichende thatsächliche Anhaltspunkte vorliegen 3). In
dieser Gesetzesvorschrift ist ein staatsrechtliches Prinzip ersten Ran-
ges enthalten; es sichert dem Einzelnen den Schutz der Strafge-
setze, indem es die Gewährung desselben dem arbiträren Ermessen
d. h. der Willkühr der Staatsanwaltschaft entzieht. Allein immer-
hin hat die Staatsanwaltschaft im einzelnen Falle zu prüfen, ob
nach dem ihr vorgelegten Material die zur Anzeige gebrachte Hand-
lung als strafbar und als gerichtlich verfolgbar zu erachten ist
und ob zureichende thatsächliche Anhaltspunkte zum Beweise der
strafbaren Handlung vorhanden sind. Wenn die Prüfung dieser
Fragen einzig und allein der Staatsanwaltschaft überlassen bleibt,
so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß sich hierbei andere
Gesichtspunkte geltend machen als die durch die Gerechtigkeit ge-
gebenen; denn der zuständige Beamte der Staatsanwaltschaft hat
ja nicht nach eigener und unabhängiger Ueberzeugung, sondern nach
den ihm ertheilten Befehlen der ihm vorgesetzten Behörde zu han-
deln; es könnte daher die Versagung oder Gewährung des straf-
gerichtlichen Schutzes von Parteirücksichten oder von Rücksichten
auf die amtliche oder sociale Stellung des Beschuldigten oder von
irgend welchen anderen tendenziösen Erwägungen abhängig gemacht

1) Ein solcher existirt nur für die Gebiete, für welche Gerichtsgemeinschaften
bestehen.
2) Gerichtsverf.Ges. §. 144 Abs. 3.
3) Strafproz.Ordn. §. 152 Abs. 2.

§. 102. Die Staatsanwaltſchaft.
ihnen gemeinſam vorgeſetzte Beamte der Staatsanwaltſchaft 1); in
Ermangelung eines ſolchen der Oberreichsanwalt 2).

VI. Nach dem Gerichtsverfaſſungs-Geſetz §. 151 iſt die
Staatsanwaltſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten
unabhängig und eine in ſich geſchloſſene und einheitlich geleitete
Behörde; durch die Strafprozeß-Ordnung iſt jedoch dieſes Prinzip
durchbrochen worden.

Es gilt für die Betreibung der Strafverfolgung Seitens der
Staatsanwaltſchaft das ſogenannte Legalitätsprinzip; d. h.
die Frage, ob eine Strafverfolgung eintreten ſoll oder nicht, iſt
nicht nach Zweckmäßigkeitsrückſichten, politiſchen Erwägungen u. dgl.
zu entſcheiden, ſondern die Staatsanwaltſchaft iſt verpflichtet,
ſoweit nicht geſetzlich ein Anderes beſtimmt iſt, wegen aller ge-
richtlich ſtrafbaren und verfolgbaren Handlungen „einzuſchreiten“,
ſofern zureichende thatſächliche Anhaltspunkte vorliegen 3). In
dieſer Geſetzesvorſchrift iſt ein ſtaatsrechtliches Prinzip erſten Ran-
ges enthalten; es ſichert dem Einzelnen den Schutz der Strafge-
ſetze, indem es die Gewährung deſſelben dem arbiträren Ermeſſen
d. h. der Willkühr der Staatsanwaltſchaft entzieht. Allein immer-
hin hat die Staatsanwaltſchaft im einzelnen Falle zu prüfen, ob
nach dem ihr vorgelegten Material die zur Anzeige gebrachte Hand-
lung als ſtrafbar und als gerichtlich verfolgbar zu erachten iſt
und ob zureichende thatſächliche Anhaltspunkte zum Beweiſe der
ſtrafbaren Handlung vorhanden ſind. Wenn die Prüfung dieſer
Fragen einzig und allein der Staatsanwaltſchaft überlaſſen bleibt,
ſo iſt die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß ſich hierbei andere
Geſichtspunkte geltend machen als die durch die Gerechtigkeit ge-
gebenen; denn der zuſtändige Beamte der Staatsanwaltſchaft hat
ja nicht nach eigener und unabhängiger Ueberzeugung, ſondern nach
den ihm ertheilten Befehlen der ihm vorgeſetzten Behörde zu han-
deln; es könnte daher die Verſagung oder Gewährung des ſtraf-
gerichtlichen Schutzes von Parteirückſichten oder von Rückſichten
auf die amtliche oder ſociale Stellung des Beſchuldigten oder von
irgend welchen anderen tendenziöſen Erwägungen abhängig gemacht

1) Ein ſolcher exiſtirt nur für die Gebiete, für welche Gerichtsgemeinſchaften
beſtehen.
2) Gerichtsverf.Geſ. §. 144 Abſ. 3.
3) Strafproz.Ordn. §. 152 Abſ. 2.
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[107/0117] §. 102. Die Staatsanwaltſchaft. ihnen gemeinſam vorgeſetzte Beamte der Staatsanwaltſchaft 1); in Ermangelung eines ſolchen der Oberreichsanwalt 2). VI. Nach dem Gerichtsverfaſſungs-Geſetz §. 151 iſt die Staatsanwaltſchaft in ihren Amtsverrichtungen von den Gerichten unabhängig und eine in ſich geſchloſſene und einheitlich geleitete Behörde; durch die Strafprozeß-Ordnung iſt jedoch dieſes Prinzip durchbrochen worden. Es gilt für die Betreibung der Strafverfolgung Seitens der Staatsanwaltſchaft das ſogenannte Legalitätsprinzip; d. h. die Frage, ob eine Strafverfolgung eintreten ſoll oder nicht, iſt nicht nach Zweckmäßigkeitsrückſichten, politiſchen Erwägungen u. dgl. zu entſcheiden, ſondern die Staatsanwaltſchaft iſt verpflichtet, ſoweit nicht geſetzlich ein Anderes beſtimmt iſt, wegen aller ge- richtlich ſtrafbaren und verfolgbaren Handlungen „einzuſchreiten“, ſofern zureichende thatſächliche Anhaltspunkte vorliegen 3). In dieſer Geſetzesvorſchrift iſt ein ſtaatsrechtliches Prinzip erſten Ran- ges enthalten; es ſichert dem Einzelnen den Schutz der Strafge- ſetze, indem es die Gewährung deſſelben dem arbiträren Ermeſſen d. h. der Willkühr der Staatsanwaltſchaft entzieht. Allein immer- hin hat die Staatsanwaltſchaft im einzelnen Falle zu prüfen, ob nach dem ihr vorgelegten Material die zur Anzeige gebrachte Hand- lung als ſtrafbar und als gerichtlich verfolgbar zu erachten iſt und ob zureichende thatſächliche Anhaltspunkte zum Beweiſe der ſtrafbaren Handlung vorhanden ſind. Wenn die Prüfung dieſer Fragen einzig und allein der Staatsanwaltſchaft überlaſſen bleibt, ſo iſt die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß ſich hierbei andere Geſichtspunkte geltend machen als die durch die Gerechtigkeit ge- gebenen; denn der zuſtändige Beamte der Staatsanwaltſchaft hat ja nicht nach eigener und unabhängiger Ueberzeugung, ſondern nach den ihm ertheilten Befehlen der ihm vorgeſetzten Behörde zu han- deln; es könnte daher die Verſagung oder Gewährung des ſtraf- gerichtlichen Schutzes von Parteirückſichten oder von Rückſichten auf die amtliche oder ſociale Stellung des Beſchuldigten oder von irgend welchen anderen tendenziöſen Erwägungen abhängig gemacht 1) Ein ſolcher exiſtirt nur für die Gebiete, für welche Gerichtsgemeinſchaften beſtehen. 2) Gerichtsverf.Geſ. §. 144 Abſ. 3. 3) Strafproz.Ordn. §. 152 Abſ. 2.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht0302_1882/117>, abgerufen am 29.04.2024.