Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Von dem moralischen Schein.
bestimmt werden, so ist man auch längst schon gewöhnt,
den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Güte einer
Sache oder Handlung vollständig zu bestimmen, man
sie von allen Seiten betrachten, und das Gute und
Schlechte dabey gegen einander abwägen müsse. So
viele Seiten man aus der Acht läßt oder übersieht, so
viele Lücken bleiben auch, und man läßt sich durch den
Schein blenden
oder irre machen, wenn man nur
die schönere oder hinwiederum nur die schlimmere
Seite
allein betrachtet. Man sehe, was wir oben (§. 13.)
hierüber angemerkt haben.

§. 131. Ueberhaupt kömmt es in vorgedachter Theo-
rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und dessen
Anwendung auf einzelne Fälle an (§. 107.). Hierinn
geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des
Wahren ab. Denn was an sich wahr ist, ist auch in
jeden Umständen und für jede Menschen wahr, weil da
höchstens nur einzelne Bestimmungen hinzukommen, die
aber dem an sich Wahren nicht widersprechen können.
Hingegen mag zwar das an sich Gute gut heißen, es
können sich aber in besondern Fällen Umstände mit ein-
mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die-
ses nicht ist, so geht der Wille auf das Bessere, und
dieses hat in Absicht auf jedes Gute statt, weil das Gute
keine absolute Einheit hat. Daher ist auch das Beste,
das wir kennen oder dessen wir uns bewußt sind, noch
nicht das beste Mögliche, und in so ferne kann auch
hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Täuschwerk des
Scheins vorkommen. Die Bestimmung der größten
Summe des Guten, das ein Mensch in seinem Leben
erlangen und wirken kann, wenn man seine Kräfte, Na-
turgaben und äußerliche Umstände mit der möglichen
Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die
sichs noch dermalen nicht gedenken läßt, weil die Aus-
messung der Grade des Guten vorerst auf Gründe ge-

bracht

Von dem moraliſchen Schein.
beſtimmt werden, ſo iſt man auch laͤngſt ſchon gewoͤhnt,
den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Guͤte einer
Sache oder Handlung vollſtaͤndig zu beſtimmen, man
ſie von allen Seiten betrachten, und das Gute und
Schlechte dabey gegen einander abwaͤgen muͤſſe. So
viele Seiten man aus der Acht laͤßt oder uͤberſieht, ſo
viele Luͤcken bleiben auch, und man laͤßt ſich durch den
Schein blenden
oder irre machen, wenn man nur
die ſchoͤnere oder hinwiederum nur die ſchlimmere
Seite
allein betrachtet. Man ſehe, was wir oben (§. 13.)
hieruͤber angemerkt haben.

§. 131. Ueberhaupt koͤmmt es in vorgedachter Theo-
rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und deſſen
Anwendung auf einzelne Faͤlle an (§. 107.). Hierinn
geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des
Wahren ab. Denn was an ſich wahr iſt, iſt auch in
jeden Umſtaͤnden und fuͤr jede Menſchen wahr, weil da
hoͤchſtens nur einzelne Beſtimmungen hinzukommen, die
aber dem an ſich Wahren nicht widerſprechen koͤnnen.
Hingegen mag zwar das an ſich Gute gut heißen, es
koͤnnen ſich aber in beſondern Faͤllen Umſtaͤnde mit ein-
mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die-
ſes nicht iſt, ſo geht der Wille auf das Beſſere, und
dieſes hat in Abſicht auf jedes Gute ſtatt, weil das Gute
keine abſolute Einheit hat. Daher iſt auch das Beſte,
das wir kennen oder deſſen wir uns bewußt ſind, noch
nicht das beſte Moͤgliche, und in ſo ferne kann auch
hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Taͤuſchwerk des
Scheins vorkommen. Die Beſtimmung der groͤßten
Summe des Guten, das ein Menſch in ſeinem Leben
erlangen und wirken kann, wenn man ſeine Kraͤfte, Na-
turgaben und aͤußerliche Umſtaͤnde mit der moͤglichen
Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die
ſichs noch dermalen nicht gedenken laͤßt, weil die Aus-
meſſung der Grade des Guten vorerſt auf Gruͤnde ge-

bracht
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0309" n="303"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von dem morali&#x017F;chen Schein.</hi></fw><lb/>
be&#x017F;timmt werden, &#x017F;o i&#x017F;t man auch la&#x0364;ng&#x017F;t &#x017F;chon gewo&#x0364;hnt,<lb/>
den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Gu&#x0364;te einer<lb/>
Sache oder Handlung voll&#x017F;ta&#x0364;ndig zu be&#x017F;timmen, man<lb/>
&#x017F;ie <hi rendition="#fr">von allen Seiten</hi> betrachten, und das Gute und<lb/>
Schlechte dabey gegen einander abwa&#x0364;gen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. So<lb/>
viele Seiten man aus der Acht la&#x0364;ßt oder u&#x0364;ber&#x017F;ieht, &#x017F;o<lb/>
viele Lu&#x0364;cken bleiben auch, und man la&#x0364;ßt &#x017F;ich <hi rendition="#fr">durch den<lb/>
Schein blenden</hi> oder <hi rendition="#fr">irre machen,</hi> wenn man nur<lb/>
die <hi rendition="#fr">&#x017F;cho&#x0364;nere</hi> oder hinwiederum nur die <hi rendition="#fr">&#x017F;chlimmere<lb/>
Seite</hi> allein betrachtet. Man &#x017F;ehe, was wir oben (§. 13.)<lb/>
hieru&#x0364;ber angemerkt haben.</p><lb/>
          <p>§. 131. Ueberhaupt ko&#x0364;mmt es in vorgedachter Theo-<lb/>
rie (§. 129.) auf den Begriff des <hi rendition="#fr">Guten</hi> und de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Anwendung auf einzelne Fa&#x0364;lle an (§. 107.). Hierinn<lb/>
geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des<lb/>
Wahren ab. Denn was an &#x017F;ich wahr i&#x017F;t, i&#x017F;t auch in<lb/>
jeden Um&#x017F;ta&#x0364;nden und fu&#x0364;r jede Men&#x017F;chen wahr, weil da<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;tens nur einzelne Be&#x017F;timmungen hinzukommen, die<lb/>
aber dem an &#x017F;ich Wahren nicht wider&#x017F;prechen ko&#x0364;nnen.<lb/>
Hingegen mag zwar das an &#x017F;ich Gute gut heißen, es<lb/>
ko&#x0364;nnen &#x017F;ich aber in be&#x017F;ondern Fa&#x0364;llen Um&#x017F;ta&#x0364;nde mit ein-<lb/>
mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die-<lb/>
&#x017F;es nicht i&#x017F;t, &#x017F;o geht der Wille auf das <hi rendition="#fr">Be&#x017F;&#x017F;ere,</hi> und<lb/>
die&#x017F;es hat in Ab&#x017F;icht auf jedes Gute &#x017F;tatt, weil das Gute<lb/>
keine ab&#x017F;olute Einheit hat. Daher i&#x017F;t auch das Be&#x017F;te,<lb/>
das wir kennen oder de&#x017F;&#x017F;en wir uns bewußt &#x017F;ind, noch<lb/>
nicht das be&#x017F;te Mo&#x0364;gliche, und in &#x017F;o ferne kann auch<lb/>
hier das oben (§. 13. <hi rendition="#aq">No.</hi> 1.) angemerkte Ta&#x0364;u&#x017F;chwerk des<lb/>
Scheins vorkommen. Die Be&#x017F;timmung der gro&#x0364;ßten<lb/>
Summe des Guten, das ein Men&#x017F;ch in &#x017F;einem Leben<lb/>
erlangen und wirken kann, wenn man &#x017F;eine Kra&#x0364;fte, Na-<lb/>
turgaben und a&#x0364;ußerliche Um&#x017F;ta&#x0364;nde mit der mo&#x0364;glichen<lb/>
Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die<lb/>
&#x017F;ichs noch dermalen nicht gedenken la&#x0364;ßt, weil die Aus-<lb/>
me&#x017F;&#x017F;ung der Grade des Guten vorer&#x017F;t auf Gru&#x0364;nde ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bracht</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0309] Von dem moraliſchen Schein. beſtimmt werden, ſo iſt man auch laͤngſt ſchon gewoͤhnt, den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Guͤte einer Sache oder Handlung vollſtaͤndig zu beſtimmen, man ſie von allen Seiten betrachten, und das Gute und Schlechte dabey gegen einander abwaͤgen muͤſſe. So viele Seiten man aus der Acht laͤßt oder uͤberſieht, ſo viele Luͤcken bleiben auch, und man laͤßt ſich durch den Schein blenden oder irre machen, wenn man nur die ſchoͤnere oder hinwiederum nur die ſchlimmere Seite allein betrachtet. Man ſehe, was wir oben (§. 13.) hieruͤber angemerkt haben. §. 131. Ueberhaupt koͤmmt es in vorgedachter Theo- rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und deſſen Anwendung auf einzelne Faͤlle an (§. 107.). Hierinn geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des Wahren ab. Denn was an ſich wahr iſt, iſt auch in jeden Umſtaͤnden und fuͤr jede Menſchen wahr, weil da hoͤchſtens nur einzelne Beſtimmungen hinzukommen, die aber dem an ſich Wahren nicht widerſprechen koͤnnen. Hingegen mag zwar das an ſich Gute gut heißen, es koͤnnen ſich aber in beſondern Faͤllen Umſtaͤnde mit ein- mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die- ſes nicht iſt, ſo geht der Wille auf das Beſſere, und dieſes hat in Abſicht auf jedes Gute ſtatt, weil das Gute keine abſolute Einheit hat. Daher iſt auch das Beſte, das wir kennen oder deſſen wir uns bewußt ſind, noch nicht das beſte Moͤgliche, und in ſo ferne kann auch hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Taͤuſchwerk des Scheins vorkommen. Die Beſtimmung der groͤßten Summe des Guten, das ein Menſch in ſeinem Leben erlangen und wirken kann, wenn man ſeine Kraͤfte, Na- turgaben und aͤußerliche Umſtaͤnde mit der moͤglichen Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die ſichs noch dermalen nicht gedenken laͤßt, weil die Aus- meſſung der Grade des Guten vorerſt auf Gruͤnde ge- bracht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/309
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/309>, abgerufen am 31.10.2024.