Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 1. Leipzig, 1833.

Bild:
<< vorherige Seite

ten, leise Schmeichelworte beschwichtigten ihn bald, ich
stieg über den Zaun. Clara hatte Besuch von ihrem
Bruder. Von unserm Verhältnisse dürfte er nichts ahnen;
er war ein leidenschaftlicher Mensch, der in Italien ge¬
boren und erzogen war; entdeckte er mich bei meinem
Vorhaben, er schoß mich wie einen Strauchdieb nieder.
Ich aber war liebelustig und verachtete alle Rücksichten;
in den hohen Affekten kennen wir keine künstlichen bür¬
gerlichen Formen, man hütet mit König Rene Schaafe,
und reitet mit Hüon nach Bagdad. Jener Besuch hatte
mich seit mehreren Tagen von Clara getrennt, ich lechzte
nach ihrem Auge, wie nach Licht -- er war noch da,
das wußte ich, aber ich wußte auch, daß Clara wie
ein Vogel schlief, der bei dem leisesten Geräusch die
Schwingen hebt; ich wußte, daß ein hoher, breitästiger
Kastanienbaum dicht unter ihrem Fenster stand. Ich
schlüpfte entschlossen durch die dunkeln Gänge des Gar¬
tens dem Hause zu. Clara's Fenster waren offen, wahr¬
scheinlich war sie noch wach -- aber die Fenster des
Bruders waren hell, eines sogar war geöffnet, das
kleinste Geräusch konnte mich verrathen. Du weißt,
daß ich im Sommer immer leichte Tanzstiefeln trage,
dies kam mir zu Statten; ohne Geräusch kam ich bis

ten, leiſe Schmeichelworte beſchwichtigten ihn bald, ich
ſtieg über den Zaun. Clara hatte Beſuch von ihrem
Bruder. Von unſerm Verhältniſſe dürfte er nichts ahnen;
er war ein leidenſchaftlicher Menſch, der in Italien ge¬
boren und erzogen war; entdeckte er mich bei meinem
Vorhaben, er ſchoß mich wie einen Strauchdieb nieder.
Ich aber war liebeluſtig und verachtete alle Rückſichten;
in den hohen Affekten kennen wir keine künſtlichen bür¬
gerlichen Formen, man hütet mit König René Schaafe,
und reitet mit Hüon nach Bagdad. Jener Beſuch hatte
mich ſeit mehreren Tagen von Clara getrennt, ich lechzte
nach ihrem Auge, wie nach Licht — er war noch da,
das wußte ich, aber ich wußte auch, daß Clara wie
ein Vogel ſchlief, der bei dem leiſeſten Geräuſch die
Schwingen hebt; ich wußte, daß ein hoher, breitäſtiger
Kaſtanienbaum dicht unter ihrem Fenſter ſtand. Ich
ſchlüpfte entſchloſſen durch die dunkeln Gänge des Gar¬
tens dem Hauſe zu. Clara's Fenſter waren offen, wahr¬
ſcheinlich war ſie noch wach — aber die Fenſter des
Bruders waren hell, eines ſogar war geöffnet, das
kleinſte Geräuſch konnte mich verrathen. Du weißt,
daß ich im Sommer immer leichte Tanzſtiefeln trage,
dies kam mir zu Statten; ohne Geräuſch kam ich bis

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0068" n="58"/>
ten, lei&#x017F;e Schmeichelworte be&#x017F;chwichtigten ihn bald, ich<lb/>
&#x017F;tieg über den Zaun. Clara hatte Be&#x017F;uch von ihrem<lb/>
Bruder. Von un&#x017F;erm Verhältni&#x017F;&#x017F;e dürfte er nichts ahnen;<lb/>
er war ein leiden&#x017F;chaftlicher Men&#x017F;ch, der in Italien ge¬<lb/>
boren und erzogen war; entdeckte er mich bei meinem<lb/>
Vorhaben, er &#x017F;choß mich wie einen Strauchdieb nieder.<lb/>
Ich aber war liebelu&#x017F;tig und verachtete alle Rück&#x017F;ichten;<lb/>
in den hohen Affekten kennen wir keine kün&#x017F;tlichen bür¬<lb/>
gerlichen Formen, man hütet mit König Ren<hi rendition="#aq">é</hi> Schaafe,<lb/>
und reitet mit Hüon nach Bagdad. Jener Be&#x017F;uch hatte<lb/>
mich &#x017F;eit mehreren Tagen von Clara getrennt, ich lechzte<lb/>
nach ihrem Auge, wie nach Licht &#x2014; er war noch da,<lb/>
das wußte ich, aber ich wußte auch, daß Clara wie<lb/>
ein Vogel &#x017F;chlief, der bei dem lei&#x017F;e&#x017F;ten Geräu&#x017F;ch die<lb/>
Schwingen hebt; ich wußte, daß ein hoher, breitä&#x017F;tiger<lb/>
Ka&#x017F;tanienbaum dicht unter ihrem Fen&#x017F;ter &#x017F;tand. Ich<lb/>
&#x017F;chlüpfte ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en durch die dunkeln Gänge des Gar¬<lb/>
tens dem Hau&#x017F;e zu. Clara's Fen&#x017F;ter waren offen, wahr¬<lb/>
&#x017F;cheinlich war &#x017F;ie noch wach &#x2014; aber die Fen&#x017F;ter des<lb/>
Bruders waren hell, eines &#x017F;ogar war geöffnet, das<lb/>
klein&#x017F;te Geräu&#x017F;ch konnte mich verrathen. Du weißt,<lb/>
daß ich im Sommer immer leichte Tanz&#x017F;tiefeln trage,<lb/>
dies kam mir zu Statten; ohne Geräu&#x017F;ch kam ich bis<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0068] ten, leiſe Schmeichelworte beſchwichtigten ihn bald, ich ſtieg über den Zaun. Clara hatte Beſuch von ihrem Bruder. Von unſerm Verhältniſſe dürfte er nichts ahnen; er war ein leidenſchaftlicher Menſch, der in Italien ge¬ boren und erzogen war; entdeckte er mich bei meinem Vorhaben, er ſchoß mich wie einen Strauchdieb nieder. Ich aber war liebeluſtig und verachtete alle Rückſichten; in den hohen Affekten kennen wir keine künſtlichen bür¬ gerlichen Formen, man hütet mit König René Schaafe, und reitet mit Hüon nach Bagdad. Jener Beſuch hatte mich ſeit mehreren Tagen von Clara getrennt, ich lechzte nach ihrem Auge, wie nach Licht — er war noch da, das wußte ich, aber ich wußte auch, daß Clara wie ein Vogel ſchlief, der bei dem leiſeſten Geräuſch die Schwingen hebt; ich wußte, daß ein hoher, breitäſtiger Kaſtanienbaum dicht unter ihrem Fenſter ſtand. Ich ſchlüpfte entſchloſſen durch die dunkeln Gänge des Gar¬ tens dem Hauſe zu. Clara's Fenſter waren offen, wahr¬ ſcheinlich war ſie noch wach — aber die Fenſter des Bruders waren hell, eines ſogar war geöffnet, das kleinſte Geräuſch konnte mich verrathen. Du weißt, daß ich im Sommer immer leichte Tanzſtiefeln trage, dies kam mir zu Statten; ohne Geräuſch kam ich bis

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0101_1833
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0101_1833/68
Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 1. Leipzig, 1833, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0101_1833/68>, abgerufen am 06.05.2024.