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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833.

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mir das Haar von der Stirn und fragte, was mich
drängte. Ich konnte nicht fort, die Sünde war aus¬
gebildet in meinem Herzen, ich vermochte es nicht mehr,
mich vor meinem Gewissen zu rechtfertigen. Ich schlug
mein Gewissen todt und wollte genießen. Jener un¬
heimliche Schwager stellte sich mir entgegen; er fiel als
erstes Opfer eines Menschen, der die Bande der Ordnung
in sich zerrissen hat. Schweig, schweig, ich erkenne es
an, daß Du mir gegenüber jetzt im Rechte bist. Es
ist Ordnung in Dir, wenn auch eine Ordnung, die ich
verabscheue. Ich selbst geh' zu Grunde, aber mein
System bleibt unerschüttert; ich bin außer ihm. Alle
jene Begierden, welche die Gesetze meiner Religion in
starren Banden hielten, sind rasselnd aufgesprungen, ha¬
ben sich meiner bemächtigt, seit ich jenen Fehltritt be¬
gangen. Ein Stein ist herausgerissen, es stürzt das
ganze Gebäude über mir zusammen; ich muß rennen
und rennen, um diesem Geschick zu entgehn. Die Hölle
hohnlacht, aber sie soll wenigstens einen glänzenden Fang
gemacht haben; ich habe mich verloren, aber die Lust
will ich gewinnen. Zurück führt kein Weg, der Him¬
mel geht am Abgrunde hin, ein falscher Tritt ist hin¬
reichend. Ich bin gefallen und will mich der neuen

mir das Haar von der Stirn und fragte, was mich
drängte. Ich konnte nicht fort, die Sünde war aus¬
gebildet in meinem Herzen, ich vermochte es nicht mehr,
mich vor meinem Gewiſſen zu rechtfertigen. Ich ſchlug
mein Gewiſſen todt und wollte genießen. Jener un¬
heimliche Schwager ſtellte ſich mir entgegen; er fiel als
erſtes Opfer eines Menſchen, der die Bande der Ordnung
in ſich zerriſſen hat. Schweig, ſchweig, ich erkenne es
an, daß Du mir gegenüber jetzt im Rechte biſt. Es
iſt Ordnung in Dir, wenn auch eine Ordnung, die ich
verabſcheue. Ich ſelbſt geh' zu Grunde, aber mein
Syſtem bleibt unerſchüttert; ich bin außer ihm. Alle
jene Begierden, welche die Geſetze meiner Religion in
ſtarren Banden hielten, ſind raſſelnd aufgeſprungen, ha¬
ben ſich meiner bemächtigt, ſeit ich jenen Fehltritt be¬
gangen. Ein Stein iſt herausgeriſſen, es ſtürzt das
ganze Gebäude über mir zuſammen; ich muß rennen
und rennen, um dieſem Geſchick zu entgehn. Die Hölle
hohnlacht, aber ſie ſoll wenigſtens einen glänzenden Fang
gemacht haben; ich habe mich verloren, aber die Luſt
will ich gewinnen. Zurück führt kein Weg, der Him¬
mel geht am Abgrunde hin, ein falſcher Tritt iſt hin¬
reichend. Ich bin gefallen und will mich der neuen

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[167/0179] mir das Haar von der Stirn und fragte, was mich drängte. Ich konnte nicht fort, die Sünde war aus¬ gebildet in meinem Herzen, ich vermochte es nicht mehr, mich vor meinem Gewiſſen zu rechtfertigen. Ich ſchlug mein Gewiſſen todt und wollte genießen. Jener un¬ heimliche Schwager ſtellte ſich mir entgegen; er fiel als erſtes Opfer eines Menſchen, der die Bande der Ordnung in ſich zerriſſen hat. Schweig, ſchweig, ich erkenne es an, daß Du mir gegenüber jetzt im Rechte biſt. Es iſt Ordnung in Dir, wenn auch eine Ordnung, die ich verabſcheue. Ich ſelbſt geh' zu Grunde, aber mein Syſtem bleibt unerſchüttert; ich bin außer ihm. Alle jene Begierden, welche die Geſetze meiner Religion in ſtarren Banden hielten, ſind raſſelnd aufgeſprungen, ha¬ ben ſich meiner bemächtigt, ſeit ich jenen Fehltritt be¬ gangen. Ein Stein iſt herausgeriſſen, es ſtürzt das ganze Gebäude über mir zuſammen; ich muß rennen und rennen, um dieſem Geſchick zu entgehn. Die Hölle hohnlacht, aber ſie ſoll wenigſtens einen glänzenden Fang gemacht haben; ich habe mich verloren, aber die Luſt will ich gewinnen. Zurück führt kein Weg, der Him¬ mel geht am Abgrunde hin, ein falſcher Tritt iſt hin¬ reichend. Ich bin gefallen und will mich der neuen

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Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/179>, abgerufen am 29.04.2024.