Valerius war sogleich bereit, und auf dem Wege fragte er den Alten, was Joel fehle. Er fragte um zu fragen, obwohl er die Krankheit mit all ihrer Schwere zu kennen glaubte. Manasse's ver- grabene Augen stiegen bei dieser Frage herauf aus ihren Höhlen, und sahen mit einem entsetzlichen Ausdruck nach dem Himmel -- mit der Hand wies er auf eine schwarze Wolke, welche die Sonne bedeckte. "Adonai weiß es," sagte er mit leiser, aber entsetzlicher Stimme, und nach einer Weile setzte er wie in Geistesabwesenheit hinzu: "Was wollen wir klagen? Adonai leidet gleich uns, und alle Nächte weint er auf den Trümmern Zions voll Reue und Gram, brüllend wie ein Tiger, und in Verzweiflung, sich auf immer mit seinem Volke überworfen zu haben -- was wollen wir klagen, die ganze Welt ist ein Wehe -- -- ach, mein Sohn Joel!" --
Mit einem leisen Schauer hörte Valerius diese talmudistischen Dinge, und schritt hastig vorwärts, in eine Straße hinein, welche größtentheils von Jsraeliten bewohnt schien. Juden, die ihnen begeg- neten, sahen mit einem Gemisch von Scheu und
Valerius war ſogleich bereit, und auf dem Wege fragte er den Alten, was Joel fehle. Er fragte um zu fragen, obwohl er die Krankheit mit all ihrer Schwere zu kennen glaubte. Manaſſe’s ver- grabene Augen ſtiegen bei dieſer Frage herauf aus ihren Höhlen, und ſahen mit einem entſetzlichen Ausdruck nach dem Himmel — mit der Hand wies er auf eine ſchwarze Wolke, welche die Sonne bedeckte. „Adonai weiß es,“ ſagte er mit leiſer, aber entſetzlicher Stimme, und nach einer Weile ſetzte er wie in Geiſtesabweſenheit hinzu: „Was wollen wir klagen? Adonai leidet gleich uns, und alle Nächte weint er auf den Trümmern Zions voll Reue und Gram, brüllend wie ein Tiger, und in Verzweiflung, ſich auf immer mit ſeinem Volke überworfen zu haben — was wollen wir klagen, die ganze Welt iſt ein Wehe — — ach, mein Sohn Joel!“ —
Mit einem leiſen Schauer hörte Valerius dieſe talmudiſtiſchen Dinge, und ſchritt haſtig vorwärts, in eine Straße hinein, welche größtentheils von Jſraeliten bewohnt ſchien. Juden, die ihnen begeg- neten, ſahen mit einem Gemiſch von Scheu und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0241"n="231"/><p>Valerius war ſogleich bereit, und auf dem<lb/>
Wege fragte er den Alten, was Joel fehle. Er fragte<lb/>
um zu fragen, obwohl er die Krankheit mit all<lb/>
ihrer Schwere zu kennen glaubte. Manaſſe’s ver-<lb/>
grabene Augen ſtiegen bei dieſer Frage herauf aus<lb/>
ihren Höhlen, und ſahen mit einem entſetzlichen<lb/>
Ausdruck nach dem Himmel — mit der Hand wies<lb/>
er auf eine ſchwarze Wolke, welche die Sonne<lb/>
bedeckte. „Adonai weiß es,“ſagte er mit leiſer,<lb/>
aber entſetzlicher Stimme, und nach einer Weile<lb/>ſetzte er wie in Geiſtesabweſenheit hinzu: „Was<lb/>
wollen wir klagen? Adonai leidet gleich uns, und<lb/>
alle Nächte weint er auf den Trümmern Zions<lb/>
voll Reue und Gram, brüllend wie ein Tiger, und<lb/>
in Verzweiflung, ſich auf immer mit ſeinem Volke<lb/>
überworfen zu haben — was wollen wir klagen,<lb/>
die ganze Welt iſt ein Wehe —— ach, mein<lb/>
Sohn Joel!“—</p><lb/><p>Mit einem leiſen Schauer hörte Valerius dieſe<lb/>
talmudiſtiſchen Dinge, und ſchritt haſtig vorwärts,<lb/>
in eine Straße hinein, welche größtentheils von<lb/>
Jſraeliten bewohnt ſchien. Juden, die ihnen begeg-<lb/>
neten, ſahen mit einem Gemiſch von Scheu und<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[231/0241]
Valerius war ſogleich bereit, und auf dem
Wege fragte er den Alten, was Joel fehle. Er fragte
um zu fragen, obwohl er die Krankheit mit all
ihrer Schwere zu kennen glaubte. Manaſſe’s ver-
grabene Augen ſtiegen bei dieſer Frage herauf aus
ihren Höhlen, und ſahen mit einem entſetzlichen
Ausdruck nach dem Himmel — mit der Hand wies
er auf eine ſchwarze Wolke, welche die Sonne
bedeckte. „Adonai weiß es,“ ſagte er mit leiſer,
aber entſetzlicher Stimme, und nach einer Weile
ſetzte er wie in Geiſtesabweſenheit hinzu: „Was
wollen wir klagen? Adonai leidet gleich uns, und
alle Nächte weint er auf den Trümmern Zions
voll Reue und Gram, brüllend wie ein Tiger, und
in Verzweiflung, ſich auf immer mit ſeinem Volke
überworfen zu haben — was wollen wir klagen,
die ganze Welt iſt ein Wehe — — ach, mein
Sohn Joel!“ —
Mit einem leiſen Schauer hörte Valerius dieſe
talmudiſtiſchen Dinge, und ſchritt haſtig vorwärts,
in eine Straße hinein, welche größtentheils von
Jſraeliten bewohnt ſchien. Juden, die ihnen begeg-
neten, ſahen mit einem Gemiſch von Scheu und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 2, 1. Mannheim, 1837, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0201_1837/241>, abgerufen am 16.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.