Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 1. Halle, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

an sie nicht denken konnte. Freilich fiel sie mir mehrmals
ein: allein der stärkere Gedanke, daß ich Bursch
wäre, und nun als Bursch leben müßte, verscheuch-
te sogleich das Bild des guten Kindes, und jagte
mich zum Balzer oder zum Eberhardt-Busch.

An einem Sonntage, -- es war der Sonntag
Exaudi 1775, -- wollte ich eben mit meinem
Freund Diefenbach nach Reiskirchen gehen, wo
er zu Hause war, drei Stündchen von Gießen.
Diefenbach und ich waren die innigsten Freunde. Er
war, ob ich gleich Fuchs, und er schon ein alter
Bursche war, doch mein Schüler im Lateinischen
und Hebräischen. Da nun einige Tage Vacanz
einfielen; so wollten wir diese bei seinem Vater, ei-
nem altem kreutzbraven Manne, zubringen. Wir
waren schon beinahe am Thor, als der Postbote
Linker n -- mir zwei Briefe überreichte: den
einen von meinem Vater, mit etwas Geld von mei-
ner Mutter; den andern, wie ich aus der Hand der
Aufschrift schloß, von meinem Onkel, dem Pfarrer
zu Oppenheim. Ich gab dem Linker seine Gaben,
und steckte die Briefe zu mir, um sie in Reiskirchen
mit voller Muße zu lesen. In Reiskirchen konnte
ich erst den Abend beim Schlafengehen Zeit dazu ge-

n Herr Schmid meint, ich habe so ein ungetreues Ge-
dächtniß: aber sehen Sie, Herr Schmid, daß ich sogar
den Namen des Gießer Postboten noch weis

an ſie nicht denken konnte. Freilich fiel ſie mir mehrmals
ein: allein der ſtaͤrkere Gedanke, daß ich Burſch
waͤre, und nun als Burſch leben muͤßte, verſcheuch-
te ſogleich das Bild des guten Kindes, und jagte
mich zum Balzer oder zum Eberhardt-Buſch.

An einem Sonntage, — es war der Sonntag
Exaudi 1775, — wollte ich eben mit meinem
Freund Diefenbach nach Reiskirchen gehen, wo
er zu Hauſe war, drei Stuͤndchen von Gießen.
Diefenbach und ich waren die innigſten Freunde. Er
war, ob ich gleich Fuchs, und er ſchon ein alter
Burſche war, doch mein Schuͤler im Lateiniſchen
und Hebraͤiſchen. Da nun einige Tage Vacanz
einfielen; ſo wollten wir dieſe bei ſeinem Vater, ei-
nem altem kreutzbraven Manne, zubringen. Wir
waren ſchon beinahe am Thor, als der Poſtbote
Linker n — mir zwei Briefe uͤberreichte: den
einen von meinem Vater, mit etwas Geld von mei-
ner Mutter; den andern, wie ich aus der Hand der
Aufſchrift ſchloß, von meinem Onkel, dem Pfarrer
zu Oppenheim. Ich gab dem Linker ſeine Gaben,
und ſteckte die Briefe zu mir, um ſie in Reiskirchen
mit voller Muße zu leſen. In Reiskirchen konnte
ich erſt den Abend beim Schlafengehen Zeit dazu ge-

n Herr Schmid meint, ich habe ſo ein ungetreues Ge-
daͤchtniß: aber ſehen Sie, Herr Schmid, daß ich ſogar
den Namen des Gießer Poſtboten noch weis
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0126" n="112"/>
an &#x017F;ie nicht denken konnte. Freilich fiel &#x017F;ie mir mehrmals<lb/>
ein: allein der &#x017F;ta&#x0364;rkere Gedanke, daß ich Bur&#x017F;ch<lb/>
wa&#x0364;re, und nun als Bur&#x017F;ch leben mu&#x0364;ßte, ver&#x017F;cheuch-<lb/>
te &#x017F;ogleich das Bild des guten Kindes, und jagte<lb/>
mich zum Balzer oder zum Eberhardt-Bu&#x017F;ch.</p><lb/>
        <p>An einem Sonntage, &#x2014; es war der Sonntag<lb/><hi rendition="#aq">Exaudi</hi> 1775, &#x2014; wollte ich eben mit meinem<lb/>
Freund <hi rendition="#g">Diefenbach</hi> nach Reiskirchen gehen, wo<lb/>
er zu Hau&#x017F;e war, drei Stu&#x0364;ndchen von Gießen.<lb/>
Diefenbach und ich waren die innig&#x017F;ten Freunde. Er<lb/>
war, ob ich gleich Fuchs, und er &#x017F;chon ein alter<lb/>
Bur&#x017F;che war, doch mein Schu&#x0364;ler im Lateini&#x017F;chen<lb/>
und Hebra&#x0364;i&#x017F;chen. Da nun einige Tage Vacanz<lb/>
einfielen; &#x017F;o wollten wir die&#x017F;e bei &#x017F;einem Vater, ei-<lb/>
nem altem kreutzbraven Manne, zubringen. Wir<lb/>
waren &#x017F;chon beinahe am Thor, als der Po&#x017F;tbote<lb/><hi rendition="#g">Linker</hi> <note place="foot" n="n">Herr Schmid meint, ich habe &#x017F;o ein ungetreues Ge-<lb/>
da&#x0364;chtniß: aber &#x017F;ehen Sie, Herr Schmid, daß ich &#x017F;ogar<lb/>
den Namen des Gießer Po&#x017F;tboten noch weis</note> &#x2014; mir zwei Briefe u&#x0364;berreichte: den<lb/>
einen von meinem Vater, mit etwas Geld von mei-<lb/>
ner Mutter; den andern, wie ich aus der Hand der<lb/>
Auf&#x017F;chrift &#x017F;chloß, von meinem Onkel, dem Pfarrer<lb/>
zu Oppenheim. Ich gab dem Linker &#x017F;eine Gaben,<lb/>
und &#x017F;teckte die Briefe zu mir, um &#x017F;ie in Reiskirchen<lb/>
mit voller Muße zu le&#x017F;en. In Reiskirchen konnte<lb/>
ich er&#x017F;t den Abend beim Schlafengehen Zeit dazu ge-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0126] an ſie nicht denken konnte. Freilich fiel ſie mir mehrmals ein: allein der ſtaͤrkere Gedanke, daß ich Burſch waͤre, und nun als Burſch leben muͤßte, verſcheuch- te ſogleich das Bild des guten Kindes, und jagte mich zum Balzer oder zum Eberhardt-Buſch. An einem Sonntage, — es war der Sonntag Exaudi 1775, — wollte ich eben mit meinem Freund Diefenbach nach Reiskirchen gehen, wo er zu Hauſe war, drei Stuͤndchen von Gießen. Diefenbach und ich waren die innigſten Freunde. Er war, ob ich gleich Fuchs, und er ſchon ein alter Burſche war, doch mein Schuͤler im Lateiniſchen und Hebraͤiſchen. Da nun einige Tage Vacanz einfielen; ſo wollten wir dieſe bei ſeinem Vater, ei- nem altem kreutzbraven Manne, zubringen. Wir waren ſchon beinahe am Thor, als der Poſtbote Linker n — mir zwei Briefe uͤberreichte: den einen von meinem Vater, mit etwas Geld von mei- ner Mutter; den andern, wie ich aus der Hand der Aufſchrift ſchloß, von meinem Onkel, dem Pfarrer zu Oppenheim. Ich gab dem Linker ſeine Gaben, und ſteckte die Briefe zu mir, um ſie in Reiskirchen mit voller Muße zu leſen. In Reiskirchen konnte ich erſt den Abend beim Schlafengehen Zeit dazu ge- n Herr Schmid meint, ich habe ſo ein ungetreues Ge- daͤchtniß: aber ſehen Sie, Herr Schmid, daß ich ſogar den Namen des Gießer Poſtboten noch weis

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben01_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben01_1792/126
Zitationshilfe: Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 1. Halle, 1792, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben01_1792/126>, abgerufen am 26.04.2024.