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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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bey der Physiognomik.
möglich wäre, daß sie mich um die meinige bitten könnten -- Man verzeihe diese kleine Ausschwei-
fung. Jch kehre zu den Schwierigkeiten zurück, womit die Physiognomik umgeben ist. Und bey
aller Unzählbarkeit derselben, kann ich dennoch kurz seyn, weil ich hier nicht die Einwendungen,
die man gegen die Physiognomik macht, anzuführen gedenke. Nach und nach werden die wichtig-
sten derselben ihre Stelle und ihre Beantwortung in diesem Werke finden. Jch kann kurz seyn,
weil kaum ein Fragment dieses Werkes wird geliefert werden können, wobey Verfasser und Leser
nicht Gelegenheit haben werden, Schwierigkeiten wahrzunehmen. Jch kann kurz seyn, weil das
Fragment von dem Character des Physiognomisten, das bald folget, noch an manches erinnern
wird; kurz seyn endlich, weil die meisten Schwierigkeiten größtentheils auf Einem Punkte
beruhen --

Auf der unbeschreiblichen Feinheit unzählbarer Züge und Character -- oder, auf
der Unmöglichkeit, gewisse Empfindungen und Beobachtungen festzuhalten, auszudrücken, zu
analysiren.

Gewissers kann wohl nichts seyn, als dieß; daß die kleinsten, tausend ungeübten Augen
kaum merkbaren, Verschiedenheiten oft den verschiedensten Character anzeigen. Man wird dieß fast
bey jeglichem Blatte in der Folge dieses Werkes zu bemerken Gelegenheit haben. Eine kleine
Biegung oder Schärfe, eine Verlängerung oder Verkürzung, oft auch nur um die Breite eines
Fadens, eines Haares; die mindeste Verrückung oder Schiefheit -- wie merklich kann dadurch ein
Gesicht, der Ausdruck eines Characters, verändert werden! Wer sich selbst auf der Stelle hievon
überzeugen will, darf nur dasselbe Gesicht, vier oder sechsmal mit aller möglichen Genauigkeit
nach dem Schatten zeichnen, und diese Silhouettes, wenn sie ebenfalls mit aller möglichen Geschick-
lichkeit ins Kleine gebracht sind, unter sich vergleichen.

Wie schwer also, wie unmöglich wird, durch diese unausweichliche Verschiedenheit dessel-
ben Gesichtes, bey der sichersten Nachahmungskunst, die Präcision? und wie wichtig ist, um
eben angeführter Ursachen willen, diese Präcision bey der Physiognomik?

O so oft kann der Sitz des Characters so versteckt, so verborgen und verwickelt seyn, daß
ihr ihn nur in gewissen, vielleicht seltenen, Lagen des Gesichtes bemerken könnet, und daß diese Be-

merk-

bey der Phyſiognomik.
moͤglich waͤre, daß ſie mich um die meinige bitten koͤnnten — Man verzeihe dieſe kleine Ausſchwei-
fung. Jch kehre zu den Schwierigkeiten zuruͤck, womit die Phyſiognomik umgeben iſt. Und bey
aller Unzaͤhlbarkeit derſelben, kann ich dennoch kurz ſeyn, weil ich hier nicht die Einwendungen,
die man gegen die Phyſiognomik macht, anzufuͤhren gedenke. Nach und nach werden die wichtig-
ſten derſelben ihre Stelle und ihre Beantwortung in dieſem Werke finden. Jch kann kurz ſeyn,
weil kaum ein Fragment dieſes Werkes wird geliefert werden koͤnnen, wobey Verfaſſer und Leſer
nicht Gelegenheit haben werden, Schwierigkeiten wahrzunehmen. Jch kann kurz ſeyn, weil das
Fragment von dem Character des Phyſiognomiſten, das bald folget, noch an manches erinnern
wird; kurz ſeyn endlich, weil die meiſten Schwierigkeiten groͤßtentheils auf Einem Punkte
beruhen —

Auf der unbeſchreiblichen Feinheit unzaͤhlbarer Zuͤge und Character — oder, auf
der Unmoͤglichkeit, gewiſſe Empfindungen und Beobachtungen feſtzuhalten, auszudruͤcken, zu
analyſiren.

Gewiſſers kann wohl nichts ſeyn, als dieß; daß die kleinſten, tauſend ungeuͤbten Augen
kaum merkbaren, Verſchiedenheiten oft den verſchiedenſten Character anzeigen. Man wird dieß faſt
bey jeglichem Blatte in der Folge dieſes Werkes zu bemerken Gelegenheit haben. Eine kleine
Biegung oder Schaͤrfe, eine Verlaͤngerung oder Verkuͤrzung, oft auch nur um die Breite eines
Fadens, eines Haares; die mindeſte Verruͤckung oder Schiefheit — wie merklich kann dadurch ein
Geſicht, der Ausdruck eines Characters, veraͤndert werden! Wer ſich ſelbſt auf der Stelle hievon
uͤberzeugen will, darf nur daſſelbe Geſicht, vier oder ſechsmal mit aller moͤglichen Genauigkeit
nach dem Schatten zeichnen, und dieſe Silhouettes, wenn ſie ebenfalls mit aller moͤglichen Geſchick-
lichkeit ins Kleine gebracht ſind, unter ſich vergleichen.

Wie ſchwer alſo, wie unmoͤglich wird, durch dieſe unausweichliche Verſchiedenheit deſſel-
ben Geſichtes, bey der ſicherſten Nachahmungskunſt, die Praͤciſion? und wie wichtig iſt, um
eben angefuͤhrter Urſachen willen, dieſe Praͤciſion bey der Phyſiognomik?

O ſo oft kann der Sitz des Characters ſo verſteckt, ſo verborgen und verwickelt ſeyn, daß
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merk-
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[143/0211] bey der Phyſiognomik. moͤglich waͤre, daß ſie mich um die meinige bitten koͤnnten — Man verzeihe dieſe kleine Ausſchwei- fung. Jch kehre zu den Schwierigkeiten zuruͤck, womit die Phyſiognomik umgeben iſt. Und bey aller Unzaͤhlbarkeit derſelben, kann ich dennoch kurz ſeyn, weil ich hier nicht die Einwendungen, die man gegen die Phyſiognomik macht, anzufuͤhren gedenke. Nach und nach werden die wichtig- ſten derſelben ihre Stelle und ihre Beantwortung in dieſem Werke finden. Jch kann kurz ſeyn, weil kaum ein Fragment dieſes Werkes wird geliefert werden koͤnnen, wobey Verfaſſer und Leſer nicht Gelegenheit haben werden, Schwierigkeiten wahrzunehmen. Jch kann kurz ſeyn, weil das Fragment von dem Character des Phyſiognomiſten, das bald folget, noch an manches erinnern wird; kurz ſeyn endlich, weil die meiſten Schwierigkeiten groͤßtentheils auf Einem Punkte beruhen — Auf der unbeſchreiblichen Feinheit unzaͤhlbarer Zuͤge und Character — oder, auf der Unmoͤglichkeit, gewiſſe Empfindungen und Beobachtungen feſtzuhalten, auszudruͤcken, zu analyſiren. Gewiſſers kann wohl nichts ſeyn, als dieß; daß die kleinſten, tauſend ungeuͤbten Augen kaum merkbaren, Verſchiedenheiten oft den verſchiedenſten Character anzeigen. Man wird dieß faſt bey jeglichem Blatte in der Folge dieſes Werkes zu bemerken Gelegenheit haben. Eine kleine Biegung oder Schaͤrfe, eine Verlaͤngerung oder Verkuͤrzung, oft auch nur um die Breite eines Fadens, eines Haares; die mindeſte Verruͤckung oder Schiefheit — wie merklich kann dadurch ein Geſicht, der Ausdruck eines Characters, veraͤndert werden! Wer ſich ſelbſt auf der Stelle hievon uͤberzeugen will, darf nur daſſelbe Geſicht, vier oder ſechsmal mit aller moͤglichen Genauigkeit nach dem Schatten zeichnen, und dieſe Silhouettes, wenn ſie ebenfalls mit aller moͤglichen Geſchick- lichkeit ins Kleine gebracht ſind, unter ſich vergleichen. Wie ſchwer alſo, wie unmoͤglich wird, durch dieſe unausweichliche Verſchiedenheit deſſel- ben Geſichtes, bey der ſicherſten Nachahmungskunſt, die Praͤciſion? und wie wichtig iſt, um eben angefuͤhrter Urſachen willen, dieſe Praͤciſion bey der Phyſiognomik? O ſo oft kann der Sitz des Characters ſo verſteckt, ſo verborgen und verwickelt ſeyn, daß ihr ihn nur in gewiſſen, vielleicht ſeltenen, Lagen des Geſichtes bemerken koͤnnet, und daß dieſe Be- merk-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/211>, abgerufen am 26.04.2024.