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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Von einigen Physiognomisten.
den ersten Blick das Gute, das Treffliche, das sich Auszeichnende in jedem ihm vorkommenden,
ihm vorher ganz unbekannten Character.

Von Zimmermann sag ich nichts. So sehr er's sich, und der Welt verbergen, und
mir abläugnen will; es ist nichts gewissers, als daß er's in der Menschenkenntniß vermittelst der
Physiognomie auf einen erstaunlich hohen Grad gebracht, und daß ich ihm allein sehr viel mehr
hierinn zu danken habe, als keinem andern weder mündlichen noch schriftlichen Unterrichte der be-
sten Menschenkenner.

Nach ihm ist der Verfasser des philosophischen Bauers, Herr Doctor Hirzel, mir als
ein sehr glücklicher Beurtheiler menschlicher Gesichter bekannt.

Jch habe unter meinen Freunden, so gar unter solchen, die nichts weniger, als Phy-
siognomisten seyn wollen, die voll Vorurtheile gegen die Physiognomik sind, die nichts darüber
gelesen, keine eigentliche analysirte Beobachtungen darüber angestellt haben, keine einzige Regel
zu geben im Stande wären, natürliche Physiognomisten, die mich sehr oft beschämen, die zu mei-
nem Erstaunen über jedes ihnen vorkommende Gesicht, wenn sie am wenigsten darauf denken, mit
einer Richtigkeit und Gründlichkeit urtheilen, die vermuthen läßt, daß sie die größten Physiogno-
misten hätten abgeben können, wenn sie sich Mühe gäben, ihre Begriffe oder vielmehr ihre Empfin-
dungen mehr fest zu halten und zu entwickeln.

Wer mehr in der Welt lebt, wie ich; wer mit mehr Arten von Menschen Umgang hat,
dem müssen ohne Zweifel Leute genug bekannt seyn, welche dieß Talent in einem hohen Grade
besitzen.

Eine Bemerkung, die hieher zu gehören scheint, kann ich nicht vorbeygehen. Einfältige,
nicht dumme, aber redliche, wohlgebaute und nicht ganz unerfahrne Landleute -- fast alle
fein organisirte Kinder -- am allermeisten aber das schöne Geschlecht -- scheinen mir weit
aus die besten Physiognomisten zu seyn.

Meine Frau, die an allen meinen physiognomischen Arbeiten nicht den mindesten wissen-
schaftlichen Antheil nimmt, hat sich meines Wissens, in dieser Sache noch niemals geirrt; -- so oft
urtheilte sie von fremden, ihr schlechterdings unbekannten, Personen, die ich mit andern Augen ansa-
he, erst zu meiner Befremdung, nachher zu meinem Erstaunen so richtig, daß ich kaum mehr vor ihr
urtheilen wollte, obgleich sie, die Augen ausgenommen, kein besondres Kennzeichen, das sie vorzüg-
lich bemerkt hätte, angeben konnte. Bey dem völligsten Mangel aller Literatur, ohn alles, was man
Cultur des Geistes, Uebung der Logik oder so etwas heißen kann, durchs bloße Gefühl, welches sie
auch gar nicht durch meine physiognomischen Schriften zu berichtigen, zu schärfen oder zu verderben

sucht --

Von einigen Phyſiognomiſten.
den erſten Blick das Gute, das Treffliche, das ſich Auszeichnende in jedem ihm vorkommenden,
ihm vorher ganz unbekannten Character.

Von Zimmermann ſag ich nichts. So ſehr er's ſich, und der Welt verbergen, und
mir ablaͤugnen will; es iſt nichts gewiſſers, als daß er's in der Menſchenkenntniß vermittelſt der
Phyſiognomie auf einen erſtaunlich hohen Grad gebracht, und daß ich ihm allein ſehr viel mehr
hierinn zu danken habe, als keinem andern weder muͤndlichen noch ſchriftlichen Unterrichte der be-
ſten Menſchenkenner.

Nach ihm iſt der Verfaſſer des philoſophiſchen Bauers, Herr Doctor Hirzel, mir als
ein ſehr gluͤcklicher Beurtheiler menſchlicher Geſichter bekannt.

Jch habe unter meinen Freunden, ſo gar unter ſolchen, die nichts weniger, als Phy-
ſiognomiſten ſeyn wollen, die voll Vorurtheile gegen die Phyſiognomik ſind, die nichts daruͤber
geleſen, keine eigentliche analyſirte Beobachtungen daruͤber angeſtellt haben, keine einzige Regel
zu geben im Stande waͤren, natuͤrliche Phyſiognomiſten, die mich ſehr oft beſchaͤmen, die zu mei-
nem Erſtaunen uͤber jedes ihnen vorkommende Geſicht, wenn ſie am wenigſten darauf denken, mit
einer Richtigkeit und Gruͤndlichkeit urtheilen, die vermuthen laͤßt, daß ſie die groͤßten Phyſiogno-
miſten haͤtten abgeben koͤnnen, wenn ſie ſich Muͤhe gaͤben, ihre Begriffe oder vielmehr ihre Empfin-
dungen mehr feſt zu halten und zu entwickeln.

Wer mehr in der Welt lebt, wie ich; wer mit mehr Arten von Menſchen Umgang hat,
dem muͤſſen ohne Zweifel Leute genug bekannt ſeyn, welche dieß Talent in einem hohen Grade
beſitzen.

Eine Bemerkung, die hieher zu gehoͤren ſcheint, kann ich nicht vorbeygehen. Einfaͤltige,
nicht dumme, aber redliche, wohlgebaute und nicht ganz unerfahrne Landleute — faſt alle
fein organiſirte Kinder — am allermeiſten aber das ſchoͤne Geſchlecht — ſcheinen mir weit
aus die beſten Phyſiognomiſten zu ſeyn.

Meine Frau, die an allen meinen phyſiognomiſchen Arbeiten nicht den mindeſten wiſſen-
ſchaftlichen Antheil nimmt, hat ſich meines Wiſſens, in dieſer Sache noch niemals geirrt; — ſo oft
urtheilte ſie von fremden, ihr ſchlechterdings unbekannten, Perſonen, die ich mit andern Augen anſa-
he, erſt zu meiner Befremdung, nachher zu meinem Erſtaunen ſo richtig, daß ich kaum mehr vor ihr
urtheilen wollte, obgleich ſie, die Augen ausgenommen, kein beſondres Kennzeichen, das ſie vorzuͤg-
lich bemerkt haͤtte, angeben konnte. Bey dem voͤlligſten Mangel aller Literatur, ohn alles, was man
Cultur des Geiſtes, Uebung der Logik oder ſo etwas heißen kann, durchs bloße Gefuͤhl, welches ſie
auch gar nicht durch meine phyſiognomiſchen Schriften zu berichtigen, zu ſchaͤrfen oder zu verderben

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[183/0251] Von einigen Phyſiognomiſten. den erſten Blick das Gute, das Treffliche, das ſich Auszeichnende in jedem ihm vorkommenden, ihm vorher ganz unbekannten Character. Von Zimmermann ſag ich nichts. So ſehr er's ſich, und der Welt verbergen, und mir ablaͤugnen will; es iſt nichts gewiſſers, als daß er's in der Menſchenkenntniß vermittelſt der Phyſiognomie auf einen erſtaunlich hohen Grad gebracht, und daß ich ihm allein ſehr viel mehr hierinn zu danken habe, als keinem andern weder muͤndlichen noch ſchriftlichen Unterrichte der be- ſten Menſchenkenner. Nach ihm iſt der Verfaſſer des philoſophiſchen Bauers, Herr Doctor Hirzel, mir als ein ſehr gluͤcklicher Beurtheiler menſchlicher Geſichter bekannt. Jch habe unter meinen Freunden, ſo gar unter ſolchen, die nichts weniger, als Phy- ſiognomiſten ſeyn wollen, die voll Vorurtheile gegen die Phyſiognomik ſind, die nichts daruͤber geleſen, keine eigentliche analyſirte Beobachtungen daruͤber angeſtellt haben, keine einzige Regel zu geben im Stande waͤren, natuͤrliche Phyſiognomiſten, die mich ſehr oft beſchaͤmen, die zu mei- nem Erſtaunen uͤber jedes ihnen vorkommende Geſicht, wenn ſie am wenigſten darauf denken, mit einer Richtigkeit und Gruͤndlichkeit urtheilen, die vermuthen laͤßt, daß ſie die groͤßten Phyſiogno- miſten haͤtten abgeben koͤnnen, wenn ſie ſich Muͤhe gaͤben, ihre Begriffe oder vielmehr ihre Empfin- dungen mehr feſt zu halten und zu entwickeln. Wer mehr in der Welt lebt, wie ich; wer mit mehr Arten von Menſchen Umgang hat, dem muͤſſen ohne Zweifel Leute genug bekannt ſeyn, welche dieß Talent in einem hohen Grade beſitzen. Eine Bemerkung, die hieher zu gehoͤren ſcheint, kann ich nicht vorbeygehen. Einfaͤltige, nicht dumme, aber redliche, wohlgebaute und nicht ganz unerfahrne Landleute — faſt alle fein organiſirte Kinder — am allermeiſten aber das ſchoͤne Geſchlecht — ſcheinen mir weit aus die beſten Phyſiognomiſten zu ſeyn. Meine Frau, die an allen meinen phyſiognomiſchen Arbeiten nicht den mindeſten wiſſen- ſchaftlichen Antheil nimmt, hat ſich meines Wiſſens, in dieſer Sache noch niemals geirrt; — ſo oft urtheilte ſie von fremden, ihr ſchlechterdings unbekannten, Perſonen, die ich mit andern Augen anſa- he, erſt zu meiner Befremdung, nachher zu meinem Erſtaunen ſo richtig, daß ich kaum mehr vor ihr urtheilen wollte, obgleich ſie, die Augen ausgenommen, kein beſondres Kennzeichen, das ſie vorzuͤg- lich bemerkt haͤtte, angeben konnte. Bey dem voͤlligſten Mangel aller Literatur, ohn alles, was man Cultur des Geiſtes, Uebung der Logik oder ſo etwas heißen kann, durchs bloße Gefuͤhl, welches ſie auch gar nicht durch meine phyſiognomiſchen Schriften zu berichtigen, zu ſchaͤrfen oder zu verderben ſucht —

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/251>, abgerufen am 29.04.2024.