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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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für die Physiognomik.

"Daß böse und lasterhafte Neigungen aus dem Herzen gern in die Miene übergehen,
"dessen versichert uns eine untrügliche Erfahrung; wenigstens von gewissen Lastern. Und was
"ist die schönste Bildung des Gesichtes, in die sich die gehäßigen Züge der Wollust, des Zorns,
"der Falschheit, des Neides, des Geizes, des Stolzes und der Unzufriedenheit eingedrückt ha-
"ben? Was ist aller äußerlicher Anstand, wenn ein unedles, oder leichtsinniges Herz durch die
"Miene hervorblickt? Das sicherste Mittel, sein Gesicht, so viel in unserer Gewalt steht, zu
"verschönern, ist also dieses, daß man sein Herz verschönere, und keine böse Leidenschaften dar-
"inn herrschen lasse. Das beste Mittel, keine leere und einfältige Miene zu haben, ist, daß
"man richtig und fein denken lerne. Das beste Mittel, einen edeln Reiz über sein Gesicht aus-
"zubreiten, ist, daß man ein Herz voll Religion und Tugend habe, welche Hoheit und Zufrie-
"denheit in demselben ausbreitet. Der große Young sagt an einem Orte, daß er sich keinen
"göttlichern Anblick denken könnte, als ein schönes Frauenzimmer auf ihren Knieen in der
"Stunde ihrer Andacht, die sie unbemerkt verrichtete, und auf deren Stirne die Demuth und
"Unschuld einer frommen Seele sich vereinigten. Und in der That müßte das liebreiche und
"dienstfertige Wesen, das wir in dem äußerlichen Betragen so sehr schätzen, uns nicht frey-
"willig und überall folgen, wenn wir immer die liebreichen und dienstfertigen Menschen wä-
"ren, die wir zu scheinen, uns so viele Mühe geben? Eine Mühe, die wir kaum nöthig
"hätten, um es wirklich zu seyn. Man nehme zween Minister von gleichen Naturgaben,
"und gleichen äußerlichen Vortheilen an. Der eine soll ein gebildeter Christ, der andere nur
"ein gebildeter Weltmann seyn. Welcher wird am meisten durch sein äußerliches Betragen
"gefallen? Jener, dessen Herz voll edler und dienstfertiger Menschenliebe wallt: oder dieser,
"den die Selbstliebe gefällig macht? -- --

"Auch die Stimme ist oft der freywillige Ausdruck unsers Characters, und sie wird
"also auch das Gute und Fehlerhafte desselben an sich nehmen. Es giebt einen gewissen Ton,
"der das Leere des Verstandes verräth; man würde ihn verlieren, wenn man denken lernte -- --
"Das Leben der Stimme bleibt allezeit das Herz mit seinen guten Neigungen und Empfin-
"dungen." Moralische Vorlesungen S. 303--307.


Genug,
fuͤr die Phyſiognomik.

„Daß boͤſe und laſterhafte Neigungen aus dem Herzen gern in die Miene uͤbergehen,
„deſſen verſichert uns eine untruͤgliche Erfahrung; wenigſtens von gewiſſen Laſtern. Und was
„iſt die ſchoͤnſte Bildung des Geſichtes, in die ſich die gehaͤßigen Zuͤge der Wolluſt, des Zorns,
„der Falſchheit, des Neides, des Geizes, des Stolzes und der Unzufriedenheit eingedruͤckt ha-
„ben? Was iſt aller aͤußerlicher Anſtand, wenn ein unedles, oder leichtſinniges Herz durch die
„Miene hervorblickt? Das ſicherſte Mittel, ſein Geſicht, ſo viel in unſerer Gewalt ſteht, zu
„verſchoͤnern, iſt alſo dieſes, daß man ſein Herz verſchoͤnere, und keine boͤſe Leidenſchaften dar-
„inn herrſchen laſſe. Das beſte Mittel, keine leere und einfaͤltige Miene zu haben, iſt, daß
„man richtig und fein denken lerne. Das beſte Mittel, einen edeln Reiz uͤber ſein Geſicht aus-
„zubreiten, iſt, daß man ein Herz voll Religion und Tugend habe, welche Hoheit und Zufrie-
„denheit in demſelben ausbreitet. Der große Young ſagt an einem Orte, daß er ſich keinen
„goͤttlichern Anblick denken koͤnnte, als ein ſchoͤnes Frauenzimmer auf ihren Knieen in der
„Stunde ihrer Andacht, die ſie unbemerkt verrichtete, und auf deren Stirne die Demuth und
„Unſchuld einer frommen Seele ſich vereinigten. Und in der That muͤßte das liebreiche und
„dienſtfertige Weſen, das wir in dem aͤußerlichen Betragen ſo ſehr ſchaͤtzen, uns nicht frey-
„willig und uͤberall folgen, wenn wir immer die liebreichen und dienſtfertigen Menſchen waͤ-
„ren, die wir zu ſcheinen, uns ſo viele Muͤhe geben? Eine Muͤhe, die wir kaum noͤthig
„haͤtten, um es wirklich zu ſeyn. Man nehme zween Miniſter von gleichen Naturgaben,
„und gleichen aͤußerlichen Vortheilen an. Der eine ſoll ein gebildeter Chriſt, der andere nur
„ein gebildeter Weltmann ſeyn. Welcher wird am meiſten durch ſein aͤußerliches Betragen
„gefallen? Jener, deſſen Herz voll edler und dienſtfertiger Menſchenliebe wallt: oder dieſer,
„den die Selbſtliebe gefaͤllig macht? — —

„Auch die Stimme iſt oft der freywillige Ausdruck unſers Characters, und ſie wird
„alſo auch das Gute und Fehlerhafte deſſelben an ſich nehmen. Es giebt einen gewiſſen Ton,
„der das Leere des Verſtandes verraͤth; man wuͤrde ihn verlieren, wenn man denken lernte — —
„Das Leben der Stimme bleibt allezeit das Herz mit ſeinen guten Neigungen und Empfin-
„dungen.“ Moraliſche Vorleſungen S. 303—307.


Genug,
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[31/0055] fuͤr die Phyſiognomik. „Daß boͤſe und laſterhafte Neigungen aus dem Herzen gern in die Miene uͤbergehen, „deſſen verſichert uns eine untruͤgliche Erfahrung; wenigſtens von gewiſſen Laſtern. Und was „iſt die ſchoͤnſte Bildung des Geſichtes, in die ſich die gehaͤßigen Zuͤge der Wolluſt, des Zorns, „der Falſchheit, des Neides, des Geizes, des Stolzes und der Unzufriedenheit eingedruͤckt ha- „ben? Was iſt aller aͤußerlicher Anſtand, wenn ein unedles, oder leichtſinniges Herz durch die „Miene hervorblickt? Das ſicherſte Mittel, ſein Geſicht, ſo viel in unſerer Gewalt ſteht, zu „verſchoͤnern, iſt alſo dieſes, daß man ſein Herz verſchoͤnere, und keine boͤſe Leidenſchaften dar- „inn herrſchen laſſe. Das beſte Mittel, keine leere und einfaͤltige Miene zu haben, iſt, daß „man richtig und fein denken lerne. Das beſte Mittel, einen edeln Reiz uͤber ſein Geſicht aus- „zubreiten, iſt, daß man ein Herz voll Religion und Tugend habe, welche Hoheit und Zufrie- „denheit in demſelben ausbreitet. Der große Young ſagt an einem Orte, daß er ſich keinen „goͤttlichern Anblick denken koͤnnte, als ein ſchoͤnes Frauenzimmer auf ihren Knieen in der „Stunde ihrer Andacht, die ſie unbemerkt verrichtete, und auf deren Stirne die Demuth und „Unſchuld einer frommen Seele ſich vereinigten. Und in der That muͤßte das liebreiche und „dienſtfertige Weſen, das wir in dem aͤußerlichen Betragen ſo ſehr ſchaͤtzen, uns nicht frey- „willig und uͤberall folgen, wenn wir immer die liebreichen und dienſtfertigen Menſchen waͤ- „ren, die wir zu ſcheinen, uns ſo viele Muͤhe geben? Eine Muͤhe, die wir kaum noͤthig „haͤtten, um es wirklich zu ſeyn. Man nehme zween Miniſter von gleichen Naturgaben, „und gleichen aͤußerlichen Vortheilen an. Der eine ſoll ein gebildeter Chriſt, der andere nur „ein gebildeter Weltmann ſeyn. Welcher wird am meiſten durch ſein aͤußerliches Betragen „gefallen? Jener, deſſen Herz voll edler und dienſtfertiger Menſchenliebe wallt: oder dieſer, „den die Selbſtliebe gefaͤllig macht? — — „Auch die Stimme iſt oft der freywillige Ausdruck unſers Characters, und ſie wird „alſo auch das Gute und Fehlerhafte deſſelben an ſich nehmen. Es giebt einen gewiſſen Ton, „der das Leere des Verſtandes verraͤth; man wuͤrde ihn verlieren, wenn man denken lernte — — „Das Leben der Stimme bleibt allezeit das Herz mit ſeinen guten Neigungen und Empfin- „dungen.“ Moraliſche Vorleſungen S. 303—307. Genug,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/55>, abgerufen am 03.05.2024.