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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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VII. Fragment.
seyn, nicht natürlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechselseitige Wirkung, wenn gerad in dem
Augenblicke, da der Verstand tiefblickend, der Witz am geschäfftigsten ist, das Feuer, die Be-
wegung oder Stellung der Augen ebenfalls sich am merklichsten verändert?

Ein offnes, heiteres, uns gleichsam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres,
uns entgegen wallendes Herz sollen sich bey tausend Menschen zufälliger Weise beysammen fin-
den, und keines des andern Wirkung und Ursache seyn?

Jn allem soll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben sollen sich
Ursachen und Wirkungen entsprechen -- allenthalben soll man nichts sicherer wahrnehmen, als
dieß unaufhörliche Verhältniß von Wirkungen und Ursachen -- Und in dem schönsten, edel-
sten, was die Natur hervorgebracht hat -- soll sie willkührlich, ohne Ordnung, ohne Gesetze
handeln? Da, im menschlichen Angesichte, diesem Spiegel der Gottheit, dem herrlichsten aller
ihrer uns bekannten Werke, -- da soll nicht Wirkung und Ursache, da nicht Verhältniß
zwischen dem Aeußern und Jnnern, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Ursach
und Wirkung statt haben? --

Und das ists, was alle Bestreiter der Wahrheit der Physiognomie im Grunde
behaupten.

Sie machen die Wahrheit selbst zur unaufhörlichen Lügnerinn; die ewige Ordnung
zur willkührlichsten Taschenspielerinn, die immer etwas anders zeigt, als sie sehen lassen will.

Der gesunde Menschenverstand empört sich in der That gegen einen Menschen, der be-
haupten kann: daß Neuton und Leibnitz allenfalls ausgesehen haben könnten, wie ein Mensch
im Tollhause, der keinen festen Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht ver-
mögend ist, den gemeinsten abstrakten Satz zu begreifen, oder mit Verstand auszusprechen;
daß der eine von ihnen im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im
Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf sechse zählen kann, und was drüber geht,
unzählbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtstral gespaltet hätte?

Der gesunde Menschenverstand empört sich gegen eine Behauptung wie diese: ein star-
ker Mensch könn' aussehen, wie ein schwacher; ein vollkommen gesunder, wie ein vollkommen
schwindsüchtiger; ein feuriger, wie ein sanfter und kaltblütiger. Er empört sich gegen die

Behau-

VII. Fragment.
ſeyn, nicht natuͤrlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechſelſeitige Wirkung, wenn gerad in dem
Augenblicke, da der Verſtand tiefblickend, der Witz am geſchaͤfftigſten iſt, das Feuer, die Be-
wegung oder Stellung der Augen ebenfalls ſich am merklichſten veraͤndert?

Ein offnes, heiteres, uns gleichſam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres,
uns entgegen wallendes Herz ſollen ſich bey tauſend Menſchen zufaͤlliger Weiſe beyſammen fin-
den, und keines des andern Wirkung und Urſache ſeyn?

Jn allem ſoll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben ſollen ſich
Urſachen und Wirkungen entſprechen — allenthalben ſoll man nichts ſicherer wahrnehmen, als
dieß unaufhoͤrliche Verhaͤltniß von Wirkungen und Urſachen — Und in dem ſchoͤnſten, edel-
ſten, was die Natur hervorgebracht hat — ſoll ſie willkuͤhrlich, ohne Ordnung, ohne Geſetze
handeln? Da, im menſchlichen Angeſichte, dieſem Spiegel der Gottheit, dem herrlichſten aller
ihrer uns bekannten Werke, — da ſoll nicht Wirkung und Urſache, da nicht Verhaͤltniß
zwiſchen dem Aeußern und Jnnern, zwiſchen Sichtbarem und Unſichtbarem, zwiſchen Urſach
und Wirkung ſtatt haben? —

Und das iſts, was alle Beſtreiter der Wahrheit der Phyſiognomie im Grunde
behaupten.

Sie machen die Wahrheit ſelbſt zur unaufhoͤrlichen Luͤgnerinn; die ewige Ordnung
zur willkuͤhrlichſten Taſchenſpielerinn, die immer etwas anders zeigt, als ſie ſehen laſſen will.

Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich in der That gegen einen Menſchen, der be-
haupten kann: daß Neuton und Leibnitz allenfalls ausgeſehen haben koͤnnten, wie ein Menſch
im Tollhauſe, der keinen feſten Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht ver-
moͤgend iſt, den gemeinſten abſtrakten Satz zu begreifen, oder mit Verſtand auszuſprechen;
daß der eine von ihnen im Schaͤdel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im
Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf ſechſe zaͤhlen kann, und was druͤber geht,
unzaͤhlbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtſtral geſpaltet haͤtte?

Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich gegen eine Behauptung wie dieſe: ein ſtar-
ker Menſch koͤnn' ausſehen, wie ein ſchwacher; ein vollkommen geſunder, wie ein vollkommen
ſchwindſuͤchtiger; ein feuriger, wie ein ſanfter und kaltbluͤtiger. Er empoͤrt ſich gegen die

Behau-
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[46/0070] VII. Fragment. ſeyn, nicht natuͤrlicher Einfluß, nicht unmittelbare wechſelſeitige Wirkung, wenn gerad in dem Augenblicke, da der Verſtand tiefblickend, der Witz am geſchaͤfftigſten iſt, das Feuer, die Be- wegung oder Stellung der Augen ebenfalls ſich am merklichſten veraͤndert? Ein offnes, heiteres, uns gleichſam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres, uns entgegen wallendes Herz ſollen ſich bey tauſend Menſchen zufaͤlliger Weiſe beyſammen fin- den, und keines des andern Wirkung und Urſache ſeyn? Jn allem ſoll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben ſollen ſich Urſachen und Wirkungen entſprechen — allenthalben ſoll man nichts ſicherer wahrnehmen, als dieß unaufhoͤrliche Verhaͤltniß von Wirkungen und Urſachen — Und in dem ſchoͤnſten, edel- ſten, was die Natur hervorgebracht hat — ſoll ſie willkuͤhrlich, ohne Ordnung, ohne Geſetze handeln? Da, im menſchlichen Angeſichte, dieſem Spiegel der Gottheit, dem herrlichſten aller ihrer uns bekannten Werke, — da ſoll nicht Wirkung und Urſache, da nicht Verhaͤltniß zwiſchen dem Aeußern und Jnnern, zwiſchen Sichtbarem und Unſichtbarem, zwiſchen Urſach und Wirkung ſtatt haben? — Und das iſts, was alle Beſtreiter der Wahrheit der Phyſiognomie im Grunde behaupten. Sie machen die Wahrheit ſelbſt zur unaufhoͤrlichen Luͤgnerinn; die ewige Ordnung zur willkuͤhrlichſten Taſchenſpielerinn, die immer etwas anders zeigt, als ſie ſehen laſſen will. Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich in der That gegen einen Menſchen, der be- haupten kann: daß Neuton und Leibnitz allenfalls ausgeſehen haben koͤnnten, wie ein Menſch im Tollhauſe, der keinen feſten Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht ver- moͤgend iſt, den gemeinſten abſtrakten Satz zu begreifen, oder mit Verſtand auszuſprechen; daß der eine von ihnen im Schaͤdel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf ſechſe zaͤhlen kann, und was druͤber geht, unzaͤhlbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtſtral geſpaltet haͤtte? Der geſunde Menſchenverſtand empoͤrt ſich gegen eine Behauptung wie dieſe: ein ſtar- ker Menſch koͤnn' ausſehen, wie ein ſchwacher; ein vollkommen geſunder, wie ein vollkommen ſchwindſuͤchtiger; ein feuriger, wie ein ſanfter und kaltbluͤtiger. Er empoͤrt ſich gegen die Behau-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/70>, abgerufen am 11.12.2024.