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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Die Physiognomik eine Wissenschaft.
"diese Eigenschaft!" -- Läßt sich sagen: "So mußt du beobachten! den Weg mußt du ge-
"hen, dann wirst du finden, was ich fand, dann hierinn zur Gewißheit kommen!" --
Aber soll der geübte Beobachter der Feinergebaute auch hier, wie in allen andern Dingen, die
Wissenschaft heißen, nicht mehr, nicht heller, nicht tiefer sehen? nicht weiter fliegen?
nicht häufig Anmerkungen machen, die sich nicht in Worte kleiden, nicht in Regeln bringen
lassen? und sollte deswegen das, was sich in Zeichen ausdrücken, und in Regeln mittheilen
läßt, weniger Wissenschaft heißen? Hat die Physiognomik dieß nicht mit allen Wissenschaf-
ten gemein? Oder, nochmals, wo ist die Wissenschaft, wo alles bestimmbar -- nichts dem
Geschmacke, dem Gefühle, dem Genius übrig gelassen sey? -- Wehe der Wissenschaft, wenn
eine solche wäre! --

Albrecht Dürer maß; Raphael maß und fühlte den Menschen. Jener zeichnete
Wahrheit, wissenschaftlich; dieser gemessene, idealisirte -- und doch nicht weniger wahre
Natur.

Der blos wissenschaftliche Physiognomist mißt wie Dürer; das physiognomische Ge-
nie mißt und fühlt, wie Raphael. Je mehr indeß die Beobachtung sich verschärft; die
Sprache sich bereichert; die Zeichnungskunst fortschreitet; -- der Mensch, das Nächste und
Beste dieser Erden, den Menschen studirt -- desto wissenschaftlicher, das ist, desto bestimmter,
desto lernbarer, und lehrbarer wird die Physiognomik. -- Sie wird werden die Wissenschaft
der Wissenschaften, und dann keine Wissenschaft mehr seyn -- sondern Empfindung, schnelles
Menschengefühl! denn -- Thorheit, sie zur Wissenschaft zu machen, damit man drüber reden,
schreiben, Collegia halten und hören könne! dann würde sie nicht mehr seyn, was sie seyn
soll. -- "Wie viel Wissenschaften und Regeln haben den Genies, wie viel Genies den Wis-
senschaften und Regeln ihr Daseyn zu danken? -- Also -- Was soll ich sagen? was soll
ich thun? -- Physiognomik wissenschaftlich machen? -- oder nur, den Augen rufen zu fe-
hen?
die Herzen wecken, zu empfinden? -- und dann hier und dort, einem müßigen Zu-
schauer, daß er mich nicht für einen Thoren halte, in's Ohr sagen: "Hier ist was, das auch du
sehen kannst. Begreif nun, daß andere mehr sehen!" --

Das

Die Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft.
„dieſe Eigenſchaft!“ — Laͤßt ſich ſagen: „So mußt du beobachten! den Weg mußt du ge-
„hen, dann wirſt du finden, was ich fand, dann hierinn zur Gewißheit kommen!“ —
Aber ſoll der geuͤbte Beobachter der Feinergebaute auch hier, wie in allen andern Dingen, die
Wiſſenſchaft heißen, nicht mehr, nicht heller, nicht tiefer ſehen? nicht weiter fliegen?
nicht haͤufig Anmerkungen machen, die ſich nicht in Worte kleiden, nicht in Regeln bringen
laſſen? und ſollte deswegen das, was ſich in Zeichen ausdruͤcken, und in Regeln mittheilen
laͤßt, weniger Wiſſenſchaft heißen? Hat die Phyſiognomik dieß nicht mit allen Wiſſenſchaf-
ten gemein? Oder, nochmals, wo iſt die Wiſſenſchaft, wo alles beſtimmbar — nichts dem
Geſchmacke, dem Gefuͤhle, dem Genius uͤbrig gelaſſen ſey? — Wehe der Wiſſenſchaft, wenn
eine ſolche waͤre! —

Albrecht Duͤrer maß; Raphael maß und fuͤhlte den Menſchen. Jener zeichnete
Wahrheit, wiſſenſchaftlich; dieſer gemeſſene, idealiſirte — und doch nicht weniger wahre
Natur.

Der blos wiſſenſchaftliche Phyſiognomiſt mißt wie Duͤrer; das phyſiognomiſche Ge-
nie mißt und fuͤhlt, wie Raphael. Je mehr indeß die Beobachtung ſich verſchaͤrft; die
Sprache ſich bereichert; die Zeichnungskunſt fortſchreitet; — der Menſch, das Naͤchſte und
Beſte dieſer Erden, den Menſchen ſtudirt — deſto wiſſenſchaftlicher, das iſt, deſto beſtimmter,
deſto lernbarer, und lehrbarer wird die Phyſiognomik. — Sie wird werden die Wiſſenſchaft
der Wiſſenſchaften, und dann keine Wiſſenſchaft mehr ſeyn — ſondern Empfindung, ſchnelles
Menſchengefuͤhl! denn — Thorheit, ſie zur Wiſſenſchaft zu machen, damit man druͤber reden,
ſchreiben, Collegia halten und hoͤren koͤnne! dann wuͤrde ſie nicht mehr ſeyn, was ſie ſeyn
ſoll. — „Wie viel Wiſſenſchaften und Regeln haben den Genies, wie viel Genies den Wiſ-
ſenſchaften und Regeln ihr Daſeyn zu danken? — Alſo — Was ſoll ich ſagen? was ſoll
ich thun? — Phyſiognomik wiſſenſchaftlich machen? — oder nur, den Augen rufen zu fe-
hen?
die Herzen wecken, zu empfinden? — und dann hier und dort, einem muͤßigen Zu-
ſchauer, daß er mich nicht fuͤr einen Thoren halte, in's Ohr ſagen: „Hier iſt was, das auch du
ſehen kannſt. Begreif nun, daß andere mehr ſehen!“ —

Das
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[55/0079] Die Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft. „dieſe Eigenſchaft!“ — Laͤßt ſich ſagen: „So mußt du beobachten! den Weg mußt du ge- „hen, dann wirſt du finden, was ich fand, dann hierinn zur Gewißheit kommen!“ — Aber ſoll der geuͤbte Beobachter der Feinergebaute auch hier, wie in allen andern Dingen, die Wiſſenſchaft heißen, nicht mehr, nicht heller, nicht tiefer ſehen? nicht weiter fliegen? nicht haͤufig Anmerkungen machen, die ſich nicht in Worte kleiden, nicht in Regeln bringen laſſen? und ſollte deswegen das, was ſich in Zeichen ausdruͤcken, und in Regeln mittheilen laͤßt, weniger Wiſſenſchaft heißen? Hat die Phyſiognomik dieß nicht mit allen Wiſſenſchaf- ten gemein? Oder, nochmals, wo iſt die Wiſſenſchaft, wo alles beſtimmbar — nichts dem Geſchmacke, dem Gefuͤhle, dem Genius uͤbrig gelaſſen ſey? — Wehe der Wiſſenſchaft, wenn eine ſolche waͤre! — Albrecht Duͤrer maß; Raphael maß und fuͤhlte den Menſchen. Jener zeichnete Wahrheit, wiſſenſchaftlich; dieſer gemeſſene, idealiſirte — und doch nicht weniger wahre Natur. Der blos wiſſenſchaftliche Phyſiognomiſt mißt wie Duͤrer; das phyſiognomiſche Ge- nie mißt und fuͤhlt, wie Raphael. Je mehr indeß die Beobachtung ſich verſchaͤrft; die Sprache ſich bereichert; die Zeichnungskunſt fortſchreitet; — der Menſch, das Naͤchſte und Beſte dieſer Erden, den Menſchen ſtudirt — deſto wiſſenſchaftlicher, das iſt, deſto beſtimmter, deſto lernbarer, und lehrbarer wird die Phyſiognomik. — Sie wird werden die Wiſſenſchaft der Wiſſenſchaften, und dann keine Wiſſenſchaft mehr ſeyn — ſondern Empfindung, ſchnelles Menſchengefuͤhl! denn — Thorheit, ſie zur Wiſſenſchaft zu machen, damit man druͤber reden, ſchreiben, Collegia halten und hoͤren koͤnne! dann wuͤrde ſie nicht mehr ſeyn, was ſie ſeyn ſoll. — „Wie viel Wiſſenſchaften und Regeln haben den Genies, wie viel Genies den Wiſ- ſenſchaften und Regeln ihr Daſeyn zu danken? — Alſo — Was ſoll ich ſagen? was ſoll ich thun? — Phyſiognomik wiſſenſchaftlich machen? — oder nur, den Augen rufen zu fe- hen? die Herzen wecken, zu empfinden? — und dann hier und dort, einem muͤßigen Zu- ſchauer, daß er mich nicht fuͤr einen Thoren halte, in's Ohr ſagen: „Hier iſt was, das auch du ſehen kannſt. Begreif nun, daß andere mehr ſehen!“ — Das

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/79>, abgerufen am 05.05.2024.