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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Neuntes Fragment.
Von der Harmonie der moralischen und körperlichen
Schönheit
.

Es fragt sich: "Jst eine sichtbare, erweisliche Harmonie und Zusammenstimmung der mo-
"ralischen und körperlichen Schönheit? Eine Harmonie zwischen moralischer und körperlicher
"Häßlichkeit? und eine wesentliche Disharmonie zwischen moralischer Schönheit und körper-
"licher Häßlichkeit; zwischen moralischer Häßlichkeit und körperlicher Schönheit?"

Von Millionen Stimmen der Natur wird diese Frage laut bejahet; wie könnt' ich sie
verneinen? -- --

Es wird auf Beweise ankommen. Möchte der Leser mit der Geduld sie hören
und prüfen -- mit welcher ich sie vorlegen will. Es wird eine Zeit kommen, hoffe ich,
fast möcht' ich sagen, ich verheiß es, eine bessere Zeit, wo mich jedes Kind auslachen
wird, daß ich dieses noch erst bewiesen habe -- vielleicht auch das Zeitalter ausla-
chen -- oder edler beweinen wird, wo es Menschen gab, denen man dieses noch beweisen
mußte!

Höre die Stimme der Wahrheit, wer will, ich kann nur etwas von dem nachstam-
meln, was ich aus ihrem Munde vernehme.

Wahrheit ist Wahrheit, werde sie angenommen oder nicht! Mein Ausspruch macht
nicht wahr, was wahr ist; aber weil's wahr ist, will ich reden!

Voraus gesetzt! -- daß wir das Werk einer höchsten Weisheit -- seyn -- fällt's
nicht sogleich auf, daß es unendlich schicklicher ist -- daß zwischen physischer und moralischer
Schönheit Harmonie sey -- als daß keine sey? daß es schicklicher sey -- der Urheber aller
moralischen Vollkommenheit drücke sein höchstes Wohlgefallen daran -- durch eine natürliche
Uebereinstimmung der physischen mit der moralischen aus? Man setze doch nur das Gegen-
theil -- wer wird an eine unendliche Weisheit und Güte glauben -- und den Gedanken er-
tragen können. -- "Nicht etwa nur zufälliger Weise, nur unter gewissen Umständen geschiehet

"es --
Phys. Fragm. I. Versuch. J
Neuntes Fragment.
Von der Harmonie der moraliſchen und koͤrperlichen
Schoͤnheit
.

Es fragt ſich: „Jſt eine ſichtbare, erweisliche Harmonie und Zuſammenſtimmung der mo-
„raliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit? Eine Harmonie zwiſchen moraliſcher und koͤrperlicher
„Haͤßlichkeit? und eine weſentliche Disharmonie zwiſchen moraliſcher Schoͤnheit und koͤrper-
„licher Haͤßlichkeit; zwiſchen moraliſcher Haͤßlichkeit und koͤrperlicher Schoͤnheit?“

Von Millionen Stimmen der Natur wird dieſe Frage laut bejahet; wie koͤnnt' ich ſie
verneinen? — —

Es wird auf Beweiſe ankommen. Moͤchte der Leſer mit der Geduld ſie hoͤren
und pruͤfen — mit welcher ich ſie vorlegen will. Es wird eine Zeit kommen, hoffe ich,
faſt moͤcht' ich ſagen, ich verheiß es, eine beſſere Zeit, wo mich jedes Kind auslachen
wird, daß ich dieſes noch erſt bewieſen habe — vielleicht auch das Zeitalter ausla-
chen — oder edler beweinen wird, wo es Menſchen gab, denen man dieſes noch beweiſen
mußte!

Hoͤre die Stimme der Wahrheit, wer will, ich kann nur etwas von dem nachſtam-
meln, was ich aus ihrem Munde vernehme.

Wahrheit iſt Wahrheit, werde ſie angenommen oder nicht! Mein Ausſpruch macht
nicht wahr, was wahr iſt; aber weil's wahr iſt, will ich reden!

Voraus geſetzt! — daß wir das Werk einer hoͤchſten Weisheit — ſeyn — faͤllt's
nicht ſogleich auf, daß es unendlich ſchicklicher iſt — daß zwiſchen phyſiſcher und moraliſcher
Schoͤnheit Harmonie ſey — als daß keine ſey? daß es ſchicklicher ſey — der Urheber aller
moraliſchen Vollkommenheit druͤcke ſein hoͤchſtes Wohlgefallen daran — durch eine natuͤrliche
Uebereinſtimmung der phyſiſchen mit der moraliſchen aus? Man ſetze doch nur das Gegen-
theil — wer wird an eine unendliche Weisheit und Guͤte glauben — und den Gedanken er-
tragen koͤnnen. — „Nicht etwa nur zufaͤlliger Weiſe, nur unter gewiſſen Umſtaͤnden geſchiehet

„es —
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. J
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[57/0081] Neuntes Fragment. Von der Harmonie der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Es fragt ſich: „Jſt eine ſichtbare, erweisliche Harmonie und Zuſammenſtimmung der mo- „raliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit? Eine Harmonie zwiſchen moraliſcher und koͤrperlicher „Haͤßlichkeit? und eine weſentliche Disharmonie zwiſchen moraliſcher Schoͤnheit und koͤrper- „licher Haͤßlichkeit; zwiſchen moraliſcher Haͤßlichkeit und koͤrperlicher Schoͤnheit?“ Von Millionen Stimmen der Natur wird dieſe Frage laut bejahet; wie koͤnnt' ich ſie verneinen? — — Es wird auf Beweiſe ankommen. Moͤchte der Leſer mit der Geduld ſie hoͤren und pruͤfen — mit welcher ich ſie vorlegen will. Es wird eine Zeit kommen, hoffe ich, faſt moͤcht' ich ſagen, ich verheiß es, eine beſſere Zeit, wo mich jedes Kind auslachen wird, daß ich dieſes noch erſt bewieſen habe — vielleicht auch das Zeitalter ausla- chen — oder edler beweinen wird, wo es Menſchen gab, denen man dieſes noch beweiſen mußte! Hoͤre die Stimme der Wahrheit, wer will, ich kann nur etwas von dem nachſtam- meln, was ich aus ihrem Munde vernehme. Wahrheit iſt Wahrheit, werde ſie angenommen oder nicht! Mein Ausſpruch macht nicht wahr, was wahr iſt; aber weil's wahr iſt, will ich reden! Voraus geſetzt! — daß wir das Werk einer hoͤchſten Weisheit — ſeyn — faͤllt's nicht ſogleich auf, daß es unendlich ſchicklicher iſt — daß zwiſchen phyſiſcher und moraliſcher Schoͤnheit Harmonie ſey — als daß keine ſey? daß es ſchicklicher ſey — der Urheber aller moraliſchen Vollkommenheit druͤcke ſein hoͤchſtes Wohlgefallen daran — durch eine natuͤrliche Uebereinſtimmung der phyſiſchen mit der moraliſchen aus? Man ſetze doch nur das Gegen- theil — wer wird an eine unendliche Weisheit und Guͤte glauben — und den Gedanken er- tragen koͤnnen. — „Nicht etwa nur zufaͤlliger Weiſe, nur unter gewiſſen Umſtaͤnden geſchiehet „es — Phyſ. Fragm. I. Verſuch. J

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/81>, abgerufen am 02.11.2024.