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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.

Jch setze zum voraus, was auch der schlechteste Beobachter seines eigenen oder anderer
Angesichter nicht mehr läugnen kann: Jeder Gedankenzustand, jeder Empfindungszustand der
Seele hat seinen Ausdruck auf dem Gesicht. Unähnliche Zustände der Seele haben nicht
ähnliche Ausdrücke des Angesichts, und ähnliche Zustände nicht unähnliche Ausdrücke.

Jch setze voraus, was auch kein Moralist läugnen wird; daß gewisse Zustände der
Seele, gewisse Empfindungen, Empfindungsweisen, Neigungen, schön, anmuthig, edel, groß
sind, und jedem empfindsamen Herzen Wohlgefallen, Achtung, Liebe, Freude gleichsam abnö-
thigen; daß andere hingegen ganz das Gegentheil seyn, und wirken; häßlich, widrig, unan-
genehm, abschreckend, ekelerregend seyn!

Jch setze voraus, was jedem gesunden, auch ungeübten Auge einleuchtend ist: daß es
Schönheiten und Häßlichkeiten der Züge des Angesichts gebe, (wir reden vors erste auch nur
von diesem, *) was man auch für seltsame Einwendungen gegen eine wesentliche Schönheit
des Körpers überhaupt, gegen ewig wahre, ständige Principien körperlicher Schönheit ausge-
heckt hat: Jch stelle den schönsten Menschen neben den häßlichsten, und kein Mensch wird aus-
rufen: "Jener wie häßlich! Dieser wie so reizend schön!" Und eben derselbe schöne Mensch
schneide allerley Gesichter: Zuschauer aus allen Nationen des Erdballes werden immer mit einer
Stimme rufen: "Das war ein häßliches -- das ein scheußliches, das ein ekelhaftes -- dieß nun
"wieder ein ordentliches, ein anmuthiges, ein schönes Gesicht!" u. s. f. Die meisten Einwendun-
gen gegen eine wesentliche Schönheit, die nicht in dem willkührlichen Geschmacke des Zu-
schauers bestünde, waren immer von dem verschiedenen oft seltsamen Urtheile der Nationen
über die Schönheit des menschlichen Körpers hergenommen; allein daß alle, die zu der Nation
gehören, gerade alle die, und dann weiter keiner mehr, ein gegebenes Ding, so seltsamer Weise
für schön oder für häßlich halten: -- daß gerade alle Hottentotten, und sonst dann niemand

weiter,
*) Man theilt mir eben noch eine Stelle aus dem
Quintilian mit, die ich hier, als Anmerkung, ein-
schalten will: man könnte sie noch den obenangeführ-
ten Zeugnissen beyfügen: Dominatur maxime vultus.
Hoc supplices, hoc minaces, hoc blandi, hoc tri-[Spaltenumbruch]
stes, hoc hilares, hoc erecti, hoc submissi sumus.
Hoc pendent homines, hunc intuentur, hunc spe-
ctant, etiam antequam dicamus. Hoc quosdam
amamus, hoc odimus, hoc plura intelligimus. Hic
est saepe pro omnibus verbis.
J 2
der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.

Jch ſetze zum voraus, was auch der ſchlechteſte Beobachter ſeines eigenen oder anderer
Angeſichter nicht mehr laͤugnen kann: Jeder Gedankenzuſtand, jeder Empfindungszuſtand der
Seele hat ſeinen Ausdruck auf dem Geſicht. Unaͤhnliche Zuſtaͤnde der Seele haben nicht
aͤhnliche Ausdruͤcke des Angeſichts, und aͤhnliche Zuſtaͤnde nicht unaͤhnliche Ausdruͤcke.

Jch ſetze voraus, was auch kein Moraliſt laͤugnen wird; daß gewiſſe Zuſtaͤnde der
Seele, gewiſſe Empfindungen, Empfindungsweiſen, Neigungen, ſchoͤn, anmuthig, edel, groß
ſind, und jedem empfindſamen Herzen Wohlgefallen, Achtung, Liebe, Freude gleichſam abnoͤ-
thigen; daß andere hingegen ganz das Gegentheil ſeyn, und wirken; haͤßlich, widrig, unan-
genehm, abſchreckend, ekelerregend ſeyn!

Jch ſetze voraus, was jedem geſunden, auch ungeuͤbten Auge einleuchtend iſt: daß es
Schoͤnheiten und Haͤßlichkeiten der Zuͤge des Angeſichts gebe, (wir reden vors erſte auch nur
von dieſem, *) was man auch fuͤr ſeltſame Einwendungen gegen eine weſentliche Schoͤnheit
des Koͤrpers uͤberhaupt, gegen ewig wahre, ſtaͤndige Principien koͤrperlicher Schoͤnheit ausge-
heckt hat: Jch ſtelle den ſchoͤnſten Menſchen neben den haͤßlichſten, und kein Menſch wird aus-
rufen: „Jener wie haͤßlich! Dieſer wie ſo reizend ſchoͤn!“ Und eben derſelbe ſchoͤne Menſch
ſchneide allerley Geſichter: Zuſchauer aus allen Nationen des Erdballes werden immer mit einer
Stimme rufen: „Das war ein haͤßliches — das ein ſcheußliches, das ein ekelhaftes — dieß nun
„wieder ein ordentliches, ein anmuthiges, ein ſchoͤnes Geſicht!“ u. ſ. f. Die meiſten Einwendun-
gen gegen eine weſentliche Schoͤnheit, die nicht in dem willkuͤhrlichen Geſchmacke des Zu-
ſchauers beſtuͤnde, waren immer von dem verſchiedenen oft ſeltſamen Urtheile der Nationen
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gehoͤren, gerade alle die, und dann weiter keiner mehr, ein gegebenes Ding, ſo ſeltſamer Weiſe
fuͤr ſchoͤn oder fuͤr haͤßlich halten: — daß gerade alle Hottentotten, und ſonſt dann niemand

weiter,
*) Man theilt mir eben noch eine Stelle aus dem
Quintilian mit, die ich hier, als Anmerkung, ein-
ſchalten will: man koͤnnte ſie noch den obenangefuͤhr-
ten Zeugniſſen beyfuͤgen: Dominatur maxime vultus.
Hoc ſupplices, hoc minaces, hoc blandi, hoc tri-[Spaltenumbruch]
ſtes, hoc hilares, hoc erecti, hoc ſubmiſſi ſumus.
Hoc pendent homines, hunc intuentur, hunc ſpe-
ctant, etiam antequam dicamus. Hoc quosdam
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eſt ſaepe pro omnibus verbis.
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[59/0083] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Jch ſetze zum voraus, was auch der ſchlechteſte Beobachter ſeines eigenen oder anderer Angeſichter nicht mehr laͤugnen kann: Jeder Gedankenzuſtand, jeder Empfindungszuſtand der Seele hat ſeinen Ausdruck auf dem Geſicht. Unaͤhnliche Zuſtaͤnde der Seele haben nicht aͤhnliche Ausdruͤcke des Angeſichts, und aͤhnliche Zuſtaͤnde nicht unaͤhnliche Ausdruͤcke. Jch ſetze voraus, was auch kein Moraliſt laͤugnen wird; daß gewiſſe Zuſtaͤnde der Seele, gewiſſe Empfindungen, Empfindungsweiſen, Neigungen, ſchoͤn, anmuthig, edel, groß ſind, und jedem empfindſamen Herzen Wohlgefallen, Achtung, Liebe, Freude gleichſam abnoͤ- thigen; daß andere hingegen ganz das Gegentheil ſeyn, und wirken; haͤßlich, widrig, unan- genehm, abſchreckend, ekelerregend ſeyn! Jch ſetze voraus, was jedem geſunden, auch ungeuͤbten Auge einleuchtend iſt: daß es Schoͤnheiten und Haͤßlichkeiten der Zuͤge des Angeſichts gebe, (wir reden vors erſte auch nur von dieſem, *) was man auch fuͤr ſeltſame Einwendungen gegen eine weſentliche Schoͤnheit des Koͤrpers uͤberhaupt, gegen ewig wahre, ſtaͤndige Principien koͤrperlicher Schoͤnheit ausge- heckt hat: Jch ſtelle den ſchoͤnſten Menſchen neben den haͤßlichſten, und kein Menſch wird aus- rufen: „Jener wie haͤßlich! Dieſer wie ſo reizend ſchoͤn!“ Und eben derſelbe ſchoͤne Menſch ſchneide allerley Geſichter: Zuſchauer aus allen Nationen des Erdballes werden immer mit einer Stimme rufen: „Das war ein haͤßliches — das ein ſcheußliches, das ein ekelhaftes — dieß nun „wieder ein ordentliches, ein anmuthiges, ein ſchoͤnes Geſicht!“ u. ſ. f. Die meiſten Einwendun- gen gegen eine weſentliche Schoͤnheit, die nicht in dem willkuͤhrlichen Geſchmacke des Zu- ſchauers beſtuͤnde, waren immer von dem verſchiedenen oft ſeltſamen Urtheile der Nationen uͤber die Schoͤnheit des menſchlichen Koͤrpers hergenommen; allein daß alle, die zu der Nation gehoͤren, gerade alle die, und dann weiter keiner mehr, ein gegebenes Ding, ſo ſeltſamer Weiſe fuͤr ſchoͤn oder fuͤr haͤßlich halten: — daß gerade alle Hottentotten, und ſonſt dann niemand weiter, *) Man theilt mir eben noch eine Stelle aus dem Quintilian mit, die ich hier, als Anmerkung, ein- ſchalten will: man koͤnnte ſie noch den obenangefuͤhr- ten Zeugniſſen beyfuͤgen: Dominatur maxime vultus. Hoc ſupplices, hoc minaces, hoc blandi, hoc tri- ſtes, hoc hilares, hoc erecti, hoc ſubmiſſi ſumus. Hoc pendent homines, hunc intuentur, hunc ſpe- ctant, etiam antequam dicamus. Hoc quosdam amamus, hoc odimus, hoc plura intelligimus. Hic eſt ſaepe pro omnibus verbis. J 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/83>, abgerufen am 29.04.2024.