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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Schattenrissen sehen lasse.
$"(mithin sodann auch von allen Lagen und Gränzlinien des Gesichtes, aus welchem Ge-
"sichtspunkte dasselbe immer betrachtet werden mag; nur daß das eine Profil die am leich-
"testen zu findende, oder am leichtesten bestimmbare Linie ist) daß, sag' ich, gewisse ge-
"nau angegebene Abschnitte von Profilen, gewisse andere Gränzlinien des übrigen Profils
"unmöglich machen und schlechterdings ausschließen; daß also, wenigstens zu gewissen
"gegebenen würklichen Abschnitten, nur gewisse, obgleich allenfalls mehrere, dennoch nur
"analogische Fortsetzungen möglich sind."

Freunde der Wahrheit! Mitforscher der Natur! Mitverehrer geometrountos Theou! -- --
Helft mir, -- statt zu voreilig zu entscheiden -- mit untersuchen. Diktirt der Natur nichts;
laßt sie nur sprechen, und hört sie!

Und nun noch ein paar Worte von dem Charakter dieser 6. Gesichter.

a.) Der Schattenriß eines reinen Jünglings von offener, glücklich temperirter Natur,
geraden Verstandes, ohne Scharfsinn; Unverführbarkeit. Fest gegen allen Druck, aber unun-
ternehmend. Gelassene, kräftige Sinnlichkeit.

b.) Ein Bruder des vorigen, mit einiger Familienähnlichkeit in dem Munde, doch mit weit
mehr Trutz und Verschlossenheit. Die Stirn bis zum Uebergange zur Nase ist fest bis zum Eigen-
sinn, läßt Fähigkeiten, besonders sinnliche Talente hoffen, ob sie gleich nicht eigentlich bestimmt
ist. Die Nase mit dem Munde und Unterkinn bezeichnen auf das treffendste untheilnehmendes,
festes Daseyn, Verschlossenheit und inneres Würken.

c.) Höchste Weiblichkeit, Eigensinn und Eitelkeit, ohne Züge von Bosheit und Nie-
drigkeit. Man sieht, ungeachtet der stumpfen Stellung beym Schattenziehen, daß es ihr an
Reiz und Annehmlichkeit nicht fehlen möchte. Jch glaube bemerkt zu haben, daß die Stutz-

nasen
Phys. Fragm. II Versuch. R

Schattenriſſen ſehen laſſe.
$„(mithin ſodann auch von allen Lagen und Graͤnzlinien des Geſichtes, aus welchem Ge-
„ſichtspunkte daſſelbe immer betrachtet werden mag; nur daß das eine Profil die am leich-
„teſten zu findende, oder am leichteſten beſtimmbare Linie iſt) daß, ſag’ ich, gewiſſe ge-
„nau angegebene Abſchnitte von Profilen, gewiſſe andere Graͤnzlinien des uͤbrigen Profils
„unmoͤglich machen und ſchlechterdings ausſchließen; daß alſo, wenigſtens zu gewiſſen
„gegebenen wuͤrklichen Abſchnitten, nur gewiſſe, obgleich allenfalls mehrere, dennoch nur
analogiſche Fortſetzungen moͤglich ſind.“

Freunde der Wahrheit! Mitforſcher der Natur! Mitverehrer γεωμετρουντος Θεου! — —
Helft mir, — ſtatt zu voreilig zu entſcheiden — mit unterſuchen. Diktirt der Natur nichts;
laßt ſie nur ſprechen, und hoͤrt ſie!

Und nun noch ein paar Worte von dem Charakter dieſer 6. Geſichter.

a.) Der Schattenriß eines reinen Juͤnglings von offener, gluͤcklich temperirter Natur,
geraden Verſtandes, ohne Scharfſinn; Unverfuͤhrbarkeit. Feſt gegen allen Druck, aber unun-
ternehmend. Gelaſſene, kraͤftige Sinnlichkeit.

b.) Ein Bruder des vorigen, mit einiger Familienaͤhnlichkeit in dem Munde, doch mit weit
mehr Trutz und Verſchloſſenheit. Die Stirn bis zum Uebergange zur Naſe iſt feſt bis zum Eigen-
ſinn, laͤßt Faͤhigkeiten, beſonders ſinnliche Talente hoffen, ob ſie gleich nicht eigentlich beſtimmt
iſt. Die Naſe mit dem Munde und Unterkinn bezeichnen auf das treffendſte untheilnehmendes,
feſtes Daſeyn, Verſchloſſenheit und inneres Wuͤrken.

c.) Hoͤchſte Weiblichkeit, Eigenſinn und Eitelkeit, ohne Zuͤge von Bosheit und Nie-
drigkeit. Man ſieht, ungeachtet der ſtumpfen Stellung beym Schattenziehen, daß es ihr an
Reiz und Annehmlichkeit nicht fehlen moͤchte. Jch glaube bemerkt zu haben, daß die Stutz-

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Phyſ. Fragm. II Verſuch. R
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[129/0185] Schattenriſſen ſehen laſſe. $„(mithin ſodann auch von allen Lagen und Graͤnzlinien des Geſichtes, aus welchem Ge- „ſichtspunkte daſſelbe immer betrachtet werden mag; nur daß das eine Profil die am leich- „teſten zu findende, oder am leichteſten beſtimmbare Linie iſt) daß, ſag’ ich, gewiſſe ge- „nau angegebene Abſchnitte von Profilen, gewiſſe andere Graͤnzlinien des uͤbrigen Profils „unmoͤglich machen und ſchlechterdings ausſchließen; daß alſo, wenigſtens zu gewiſſen „gegebenen wuͤrklichen Abſchnitten, nur gewiſſe, obgleich allenfalls mehrere, dennoch nur „analogiſche Fortſetzungen moͤglich ſind.“ Freunde der Wahrheit! Mitforſcher der Natur! Mitverehrer γεωμετρουντος Θεου! — — Helft mir, — ſtatt zu voreilig zu entſcheiden — mit unterſuchen. Diktirt der Natur nichts; laßt ſie nur ſprechen, und hoͤrt ſie! Und nun noch ein paar Worte von dem Charakter dieſer 6. Geſichter. a.) Der Schattenriß eines reinen Juͤnglings von offener, gluͤcklich temperirter Natur, geraden Verſtandes, ohne Scharfſinn; Unverfuͤhrbarkeit. Feſt gegen allen Druck, aber unun- ternehmend. Gelaſſene, kraͤftige Sinnlichkeit. b.) Ein Bruder des vorigen, mit einiger Familienaͤhnlichkeit in dem Munde, doch mit weit mehr Trutz und Verſchloſſenheit. Die Stirn bis zum Uebergange zur Naſe iſt feſt bis zum Eigen- ſinn, laͤßt Faͤhigkeiten, beſonders ſinnliche Talente hoffen, ob ſie gleich nicht eigentlich beſtimmt iſt. Die Naſe mit dem Munde und Unterkinn bezeichnen auf das treffendſte untheilnehmendes, feſtes Daſeyn, Verſchloſſenheit und inneres Wuͤrken. c.) Hoͤchſte Weiblichkeit, Eigenſinn und Eitelkeit, ohne Zuͤge von Bosheit und Nie- drigkeit. Man ſieht, ungeachtet der ſtumpfen Stellung beym Schattenziehen, daß es ihr an Reiz und Annehmlichkeit nicht fehlen moͤchte. Jch glaube bemerkt zu haben, daß die Stutz- naſen Phyſ. Fragm. II Verſuch. R

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/185>, abgerufen am 04.05.2024.