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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Gelehrte, Denker.
Sechste Tafel. I. I. B.

Wir steigen von Kraft zu Kraft --

Weder alle Trefflichkeiten, noch alle Pockennarben eines Gesichtes oder eines Charakters,
will ich, kann ich kommentiren. Das eine würde Schmeicheley, das andere Bosheit scheinen müs-
sen -- und zu unserm Zwecke ist's würklich auch nicht ganz nothwendig; genug, wenn wir gewisse
entscheidende Züge des Gemüthes in entscheidenden Gesichtszügen erblicken. --

Dieß zum voraus, damit nicht wieder jemand nach dem richte, was nicht da ist, nicht da
seyn soll. Also nur sehr wenig, was unsers Zweckes ist.

Die helleste Denkenskraft, die planmachendste Klugheit, unbezwingliche Festigkeit, uner-
müdete Betriebsamkeit, pünktliche Ordnungsliebe, -- eine unglaublich treue fortgesetzte Dienstfer-
tigkeit gegen Liebgewonnene sind einige entschiedene Züge aus dem großen Charakter, den wir vor
uns haben; Züge, die alle augenscheinlich auf diesem Gesichte ausgedrückt sind.

Den festen, selbstständigen Mann, und wie der Verfasser des Sendschreibens von ei-
nem zürcherschen Geistlichen
richtig sagt -- "den feinen durchdringenden Geist, womit er alle
"andere
übersieht, durch die bestgewählten Mittel bedächtig zu seinem Zwecke schreitet, und bey-
"nah' unübersteiglichen Hindernissen auf den Kopf tritt." -- Wer sieht ihn nicht im ganzen kraft-
vollen Gesichte, das wir vor uns haben, und noch weit mehr im Originale?

Denn dieses unser Bild ist, nach dem wohlhergebrachten Gebrauche unserer blöden ge-
schmackreichen Künstler, denen immer nur für Härte, wie Sie sagen; und wie ich sage, für Kraft
und Bestimmtheit bange ist, überhaupt gar sehr kraftlos gegen das von Kraft und Drang über-
fließende Original.

Die Stirn und die Gegend um die Schläfe hat erstaunlich verloren. Der gewaltige, fel-
sigte Augenknochen, dieser Sitz von Muth, Kraft und Verstand ist von dem höflichen Zeichner --
versüßt, verschwemmt, weggewischt worden.

Daher in diesem Gesichte so viele physiognomische Widersprüche -- die in der Natur nicht
sind; wie z. E. der hohle, uneckigte Umriß des Kinns von der Spitze der Unterlippe an -- mit der
ganzen Oberlippe bis zur Nase.

Dieser
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Gelehrte, Denker.
Sechste Tafel. I. I. B.

Wir ſteigen von Kraft zu Kraft —

Weder alle Trefflichkeiten, noch alle Pockennarben eines Geſichtes oder eines Charakters,
will ich, kann ich kommentiren. Das eine wuͤrde Schmeicheley, das andere Bosheit ſcheinen muͤſ-
ſen — und zu unſerm Zwecke iſt’s wuͤrklich auch nicht ganz nothwendig; genug, wenn wir gewiſſe
entſcheidende Zuͤge des Gemuͤthes in entſcheidenden Geſichtszuͤgen erblicken. —

Dieß zum voraus, damit nicht wieder jemand nach dem richte, was nicht da iſt, nicht da
ſeyn ſoll. Alſo nur ſehr wenig, was unſers Zweckes iſt.

Die helleſte Denkenskraft, die planmachendſte Klugheit, unbezwingliche Feſtigkeit, uner-
muͤdete Betriebſamkeit, puͤnktliche Ordnungsliebe, — eine unglaublich treue fortgeſetzte Dienſtfer-
tigkeit gegen Liebgewonnene ſind einige entſchiedene Zuͤge aus dem großen Charakter, den wir vor
uns haben; Zuͤge, die alle augenſcheinlich auf dieſem Geſichte ausgedruͤckt ſind.

Den feſten, ſelbſtſtaͤndigen Mann, und wie der Verfaſſer des Sendſchreibens von ei-
nem zuͤrcherſchen Geiſtlichen
richtig ſagt — „den feinen durchdringenden Geiſt, womit er alle
„andere
uͤberſieht, durch die beſtgewaͤhlten Mittel bedaͤchtig zu ſeinem Zwecke ſchreitet, und bey-
„nah’ unuͤberſteiglichen Hinderniſſen auf den Kopf tritt.“ — Wer ſieht ihn nicht im ganzen kraft-
vollen Geſichte, das wir vor uns haben, und noch weit mehr im Originale?

Denn dieſes unſer Bild iſt, nach dem wohlhergebrachten Gebrauche unſerer bloͤden ge-
ſchmackreichen Kuͤnſtler, denen immer nur fuͤr Haͤrte, wie Sie ſagen; und wie ich ſage, fuͤr Kraft
und Beſtimmtheit bange iſt, uͤberhaupt gar ſehr kraftlos gegen das von Kraft und Drang uͤber-
fließende Original.

Die Stirn und die Gegend um die Schlaͤfe hat erſtaunlich verloren. Der gewaltige, fel-
ſigte Augenknochen, dieſer Sitz von Muth, Kraft und Verſtand iſt von dem hoͤflichen Zeichner —
verſuͤßt, verſchwemmt, weggewiſcht worden.

Daher in dieſem Geſichte ſo viele phyſiognomiſche Widerſpruͤche — die in der Natur nicht
ſind; wie z. E. der hohle, uneckigte Umriß des Kinns von der Spitze der Unterlippe an — mit der
ganzen Oberlippe bis zur Naſe.

Dieſer
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[269/0477] Gelehrte, Denker. Sechste Tafel. I. I. B. Wir ſteigen von Kraft zu Kraft — Weder alle Trefflichkeiten, noch alle Pockennarben eines Geſichtes oder eines Charakters, will ich, kann ich kommentiren. Das eine wuͤrde Schmeicheley, das andere Bosheit ſcheinen muͤſ- ſen — und zu unſerm Zwecke iſt’s wuͤrklich auch nicht ganz nothwendig; genug, wenn wir gewiſſe entſcheidende Zuͤge des Gemuͤthes in entſcheidenden Geſichtszuͤgen erblicken. — Dieß zum voraus, damit nicht wieder jemand nach dem richte, was nicht da iſt, nicht da ſeyn ſoll. Alſo nur ſehr wenig, was unſers Zweckes iſt. Die helleſte Denkenskraft, die planmachendſte Klugheit, unbezwingliche Feſtigkeit, uner- muͤdete Betriebſamkeit, puͤnktliche Ordnungsliebe, — eine unglaublich treue fortgeſetzte Dienſtfer- tigkeit gegen Liebgewonnene ſind einige entſchiedene Zuͤge aus dem großen Charakter, den wir vor uns haben; Zuͤge, die alle augenſcheinlich auf dieſem Geſichte ausgedruͤckt ſind. Den feſten, ſelbſtſtaͤndigen Mann, und wie der Verfaſſer des Sendſchreibens von ei- nem zuͤrcherſchen Geiſtlichen richtig ſagt — „den feinen durchdringenden Geiſt, womit er alle „andere uͤberſieht, durch die beſtgewaͤhlten Mittel bedaͤchtig zu ſeinem Zwecke ſchreitet, und bey- „nah’ unuͤberſteiglichen Hinderniſſen auf den Kopf tritt.“ — Wer ſieht ihn nicht im ganzen kraft- vollen Geſichte, das wir vor uns haben, und noch weit mehr im Originale? Denn dieſes unſer Bild iſt, nach dem wohlhergebrachten Gebrauche unſerer bloͤden ge- ſchmackreichen Kuͤnſtler, denen immer nur fuͤr Haͤrte, wie Sie ſagen; und wie ich ſage, fuͤr Kraft und Beſtimmtheit bange iſt, uͤberhaupt gar ſehr kraftlos gegen das von Kraft und Drang uͤber- fließende Original. Die Stirn und die Gegend um die Schlaͤfe hat erſtaunlich verloren. Der gewaltige, fel- ſigte Augenknochen, dieſer Sitz von Muth, Kraft und Verſtand iſt von dem hoͤflichen Zeichner — verſuͤßt, verſchwemmt, weggewiſcht worden. Daher in dieſem Geſichte ſo viele phyſiognomiſche Widerſpruͤche — die in der Natur nicht ſind; wie z. E. der hohle, uneckigte Umriß des Kinns von der Spitze der Unterlippe an — mit der ganzen Oberlippe bis zur Naſe. Dieſer Ll 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/477>, abgerufen am 26.04.2024.