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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. X. Fragment. Genie.
mal bleibt das gewiß -- das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, in-
nig Eigenthümliche, Unnachahmliche, Göttliche
-- ist Genie -- das Jnspirationsmäs-
sige ist Genie
-- hieß bey allen Nationen, zu allen Zeiten Genie -- und wird's heißen, so lan-
ge Menschen denken und empfinden und reden. Genie blitzt; Genie schafft; veranstaltet nicht;
schafft! So wie es selbst nicht veranstaltet werden kann, sondern ist! Genie vereinigt, was nie-
mand vereinigen; trennt, was niemand trennen kann; sieht, und hört und fühlt, und giebt und
nimmt -- auf eine Weise, deren Unnachahmlichkeit jeder andere sogleich innerlich anerkennen muß --
Unnachahmlich und über allen Schein von Nachahmlichkeit erhaben ist das Werk des reinen Ge-
nius. Unsterblich ist alles Werk des Genies, wie der Funke Gottes, aus dem es fließt. Ueber kurz
oder lang wird's erkannt -- wird seine Unsterblichkeit gesichert. Ueber kurz oder lang alles herabge-
würdigt, was schwachen Köpfen Genie schien und nicht war; nur Talent; nur gelernt, nur nach-
geahmt, nur Faktize war, nicht Geist war aus Geist; nicht quoll aus unlernbarem Drange
der Seele; nicht war Kind der Liebe! Abdruck des innern Menschen! Ausgeburt und Ebenbild der
verborgensten Kraft! Lauf alle Reihen der Menschen durch, die ganze Nationen und Jahrhunder-
te mit Einer Stimme Genie nannten -- oder deren Werke und Wirkungen unsterblich sind und
fortleben von Geschlecht zu Geschlecht, und nie zu verkennen, nie auszulöschen sind -- wenn noch so
viele, noch so stürmende Stürme über sie brausen -- Nenn unter allen Einen -- der nicht ge-
rade um deßwillen Genie hieß -- und war -- weil er Ungelerntes und Unlernbares empfand,
sprach, dichtete, gab, schuf! Unnachahmlichkeit ist der Charakter des Genies und seiner Wir-
kungen, wie aller Werke und Wirkungen Gottes! Unnachahmlichkeit; Momentaneität; Of-
fenbarung; Erscheinung; Gegebenheit,
wenn ich so sagen darf! was wohl geahndet, aber
nicht gewollt, nicht begehrt werden kann -- oder was man hat im Augenblicke des Wollens und
Begehrens -- ohne zu wissen wie? -- was gegeben wird -- nicht von Menschen; sondern von
Gott, oder vom Satan!



Millionen Gegenstände der Natur sind, die uns affiziren, unsere Kräfte regen, unsere Lie-
be anziehen, unserm Glauben Kraft, unserer Hoffnung Flügel geben -- Millionen Gegenstände,
an denen sich die menschliche Schöpfungskraft üben, in die sich der menschliche Geist hineinwurzeln

kann

I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie.
mal bleibt das gewiß — das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, in-
nig Eigenthuͤmliche, Unnachahmliche, Goͤttliche
— iſt Genie — das Jnſpirationsmaͤſ-
ſige iſt Genie
— hieß bey allen Nationen, zu allen Zeiten Genie — und wird’s heißen, ſo lan-
ge Menſchen denken und empfinden und reden. Genie blitzt; Genie ſchafft; veranſtaltet nicht;
ſchafft! So wie es ſelbſt nicht veranſtaltet werden kann, ſondern iſt! Genie vereinigt, was nie-
mand vereinigen; trennt, was niemand trennen kann; ſieht, und hoͤrt und fuͤhlt, und giebt und
nimmt — auf eine Weiſe, deren Unnachahmlichkeit jeder andere ſogleich innerlich anerkennen muß —
Unnachahmlich und uͤber allen Schein von Nachahmlichkeit erhaben iſt das Werk des reinen Ge-
nius. Unſterblich iſt alles Werk des Genies, wie der Funke Gottes, aus dem es fließt. Ueber kurz
oder lang wird’s erkannt — wird ſeine Unſterblichkeit geſichert. Ueber kurz oder lang alles herabge-
wuͤrdigt, was ſchwachen Koͤpfen Genie ſchien und nicht war; nur Talent; nur gelernt, nur nach-
geahmt, nur Faktize war, nicht Geiſt war aus Geiſt; nicht quoll aus unlernbarem Drange
der Seele; nicht war Kind der Liebe! Abdruck des innern Menſchen! Ausgeburt und Ebenbild der
verborgenſten Kraft! Lauf alle Reihen der Menſchen durch, die ganze Nationen und Jahrhunder-
te mit Einer Stimme Genie nannten — oder deren Werke und Wirkungen unſterblich ſind und
fortleben von Geſchlecht zu Geſchlecht, und nie zu verkennen, nie auszuloͤſchen ſind — wenn noch ſo
viele, noch ſo ſtuͤrmende Stuͤrme uͤber ſie brauſen — Nenn unter allen Einen — der nicht ge-
rade um deßwillen Genie hieß — und war — weil er Ungelerntes und Unlernbares empfand,
ſprach, dichtete, gab, ſchuf! Unnachahmlichkeit iſt der Charakter des Genies und ſeiner Wir-
kungen, wie aller Werke und Wirkungen Gottes! Unnachahmlichkeit; Momentaneitaͤt; Of-
fenbarung; Erſcheinung; Gegebenheit,
wenn ich ſo ſagen darf! was wohl geahndet, aber
nicht gewollt, nicht begehrt werden kann — oder was man hat im Augenblicke des Wollens und
Begehrens — ohne zu wiſſen wie? — was gegeben wird — nicht von Menſchen; ſondern von
Gott, oder vom Satan!



Millionen Gegenſtaͤnde der Natur ſind, die uns affiziren, unſere Kraͤfte regen, unſere Lie-
be anziehen, unſerm Glauben Kraft, unſerer Hoffnung Fluͤgel geben — Millionen Gegenſtaͤnde,
an denen ſich die menſchliche Schoͤpfungskraft uͤben, in die ſich der menſchliche Geiſt hineinwurzeln

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[82/0110] I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. mal bleibt das gewiß — das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, in- nig Eigenthuͤmliche, Unnachahmliche, Goͤttliche — iſt Genie — das Jnſpirationsmaͤſ- ſige iſt Genie — hieß bey allen Nationen, zu allen Zeiten Genie — und wird’s heißen, ſo lan- ge Menſchen denken und empfinden und reden. Genie blitzt; Genie ſchafft; veranſtaltet nicht; ſchafft! So wie es ſelbſt nicht veranſtaltet werden kann, ſondern iſt! Genie vereinigt, was nie- mand vereinigen; trennt, was niemand trennen kann; ſieht, und hoͤrt und fuͤhlt, und giebt und nimmt — auf eine Weiſe, deren Unnachahmlichkeit jeder andere ſogleich innerlich anerkennen muß — Unnachahmlich und uͤber allen Schein von Nachahmlichkeit erhaben iſt das Werk des reinen Ge- nius. Unſterblich iſt alles Werk des Genies, wie der Funke Gottes, aus dem es fließt. Ueber kurz oder lang wird’s erkannt — wird ſeine Unſterblichkeit geſichert. Ueber kurz oder lang alles herabge- wuͤrdigt, was ſchwachen Koͤpfen Genie ſchien und nicht war; nur Talent; nur gelernt, nur nach- geahmt, nur Faktize war, nicht Geiſt war aus Geiſt; nicht quoll aus unlernbarem Drange der Seele; nicht war Kind der Liebe! Abdruck des innern Menſchen! Ausgeburt und Ebenbild der verborgenſten Kraft! Lauf alle Reihen der Menſchen durch, die ganze Nationen und Jahrhunder- te mit Einer Stimme Genie nannten — oder deren Werke und Wirkungen unſterblich ſind und fortleben von Geſchlecht zu Geſchlecht, und nie zu verkennen, nie auszuloͤſchen ſind — wenn noch ſo viele, noch ſo ſtuͤrmende Stuͤrme uͤber ſie brauſen — Nenn unter allen Einen — der nicht ge- rade um deßwillen Genie hieß — und war — weil er Ungelerntes und Unlernbares empfand, ſprach, dichtete, gab, ſchuf! Unnachahmlichkeit iſt der Charakter des Genies und ſeiner Wir- kungen, wie aller Werke und Wirkungen Gottes! Unnachahmlichkeit; Momentaneitaͤt; Of- fenbarung; Erſcheinung; Gegebenheit, wenn ich ſo ſagen darf! was wohl geahndet, aber nicht gewollt, nicht begehrt werden kann — oder was man hat im Augenblicke des Wollens und Begehrens — ohne zu wiſſen wie? — was gegeben wird — nicht von Menſchen; ſondern von Gott, oder vom Satan! Millionen Gegenſtaͤnde der Natur ſind, die uns affiziren, unſere Kraͤfte regen, unſere Lie- be anziehen, unſerm Glauben Kraft, unſerer Hoffnung Fluͤgel geben — Millionen Gegenſtaͤnde, an denen ſich die menſchliche Schoͤpfungskraft uͤben, in die ſich der menſchliche Geiſt hineinwurzeln kann

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/110>, abgerufen am 30.04.2024.