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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Ueber Freyheit und Nichtfreyheit des Menschen.
hieher und nicht weiter -- aber so weit! ruft Gottes Stimme Wahrheit, Physiognomik jedem
Menschen zu, der Ohren hat zu hören: Sey, was du bist, und werde, was du kannst.

Jedes Menschen Physiognomie und Charakter kann sich erstaunlich verändern; aber doch
nur auf eine so und so bestimmte Weise. Jeder hat einen großen Spielraum -- der kleinste ein gut
groß Stück Feld, auf welches er mancherley, nach des Bodens Art, säen kann. Aber er kann nur
den Saamen säen, den er empfieng, und nur den Boden bauen, auf den er hingestellt ist. Jn
dem großen Hause Gottes sind zur Ehre des Hausherrn goldene, silberne und hölzerne Gefäße;
alle tauglich, alle nützlich -- alle Gottesempfänglich; alle Werkzeuge der Gottheit -- alles Ge-
danken, Offenbarungen von ihm! Alles Worte seiner Kraft und Weisheit -- aber das Hölzerne
bleibt hölzern, das Silberne silbern, das Goldene golden. Das Goldene kann ungebraucht ver-
altern; aber es bleibt golden. Das Hölzerne kann nützlicher werden, als das Goldene; aber es
bleibt hölzern. Keine Erziehung, keine Anstrengung, kein Aufstreben der Jmagination ohne tiefe
innere Ahndung und Gefühl der Kraft -- kann uns eine andere Natur geben. Laß jeden Men-
schen das seyn, was er ist; und sey du das, und nichts anders, als was du bist; so bist
du Gott und Menschen und dir selber gut genug.
-- Bist du Violin -- willst du Flöten-
ton
aus dir erzwingen? Bist du Trompete -- willst du schallen lernen wie die Trommel? Aber
dieselbe Violin, so oder so gespannt, so oder so gehalten -- so oder so gestrichen -- wie unendlich
mannichfaltige Töne kann sie von sich geben -- nur keinen Flötenton -- so wenig die Trommel trom-
peten kann! Aber wie unendlich verschieden kann die Trommel gerührt werden!

Mit einer schlechten Feder kann ich nicht schön schreiben; aber schön und schlecht mit einer
schönen. Jch kann nicht Weisheit reden, wenn ich dumm bin; aber dumm reden, wenn ich weise
bin. Nicht geben, wenn ich nicht habe; aber wenn ich habe, geben, oder behalten, brauchen, oder
nicht brauchen. Mit tausend Gulden kann ich kaufen nicht alles, was ich will -- aber dennoch
steht es mir frey, unter unzähligen Dingen, deren Werth diese Summe nicht übersteigt -- auszu-
lesen. Also bin ich frey und nicht frey; von meiner innern und äußern Organisation hängt die
Summe meiner Kräfte, der Grad meiner Aktivität und Passivität ab. Von den äußern Umstän-
den, Erweckungen, Veranlassungen, Menschen, Büchern, Schicksalen, der Gebrauch, den ich
von dem bestimmten Maaße meiner Kräfte machen kann. Nicht an jemandes Wollen oder

Laufen
P 3

Ueber Freyheit und Nichtfreyheit des Menſchen.
hieher und nicht weiter — aber ſo weit! ruft Gottes Stimme Wahrheit, Phyſiognomik jedem
Menſchen zu, der Ohren hat zu hoͤren: Sey, was du biſt, und werde, was du kannſt.

Jedes Menſchen Phyſiognomie und Charakter kann ſich erſtaunlich veraͤndern; aber doch
nur auf eine ſo und ſo beſtimmte Weiſe. Jeder hat einen großen Spielraum — der kleinſte ein gut
groß Stuͤck Feld, auf welches er mancherley, nach des Bodens Art, ſaͤen kann. Aber er kann nur
den Saamen ſaͤen, den er empfieng, und nur den Boden bauen, auf den er hingeſtellt iſt. Jn
dem großen Hauſe Gottes ſind zur Ehre des Hausherrn goldene, ſilberne und hoͤlzerne Gefaͤße;
alle tauglich, alle nuͤtzlich — alle Gottesempfaͤnglich; alle Werkzeuge der Gottheit — alles Ge-
danken, Offenbarungen von ihm! Alles Worte ſeiner Kraft und Weisheit — aber das Hoͤlzerne
bleibt hoͤlzern, das Silberne ſilbern, das Goldene golden. Das Goldene kann ungebraucht ver-
altern; aber es bleibt golden. Das Hoͤlzerne kann nuͤtzlicher werden, als das Goldene; aber es
bleibt hoͤlzern. Keine Erziehung, keine Anſtrengung, kein Aufſtreben der Jmagination ohne tiefe
innere Ahndung und Gefuͤhl der Kraft — kann uns eine andere Natur geben. Laß jeden Men-
ſchen das ſeyn, was er iſt; und ſey du das, und nichts anders, als was du biſt; ſo biſt
du Gott und Menſchen und dir ſelber gut genug.
— Biſt du Violin — willſt du Floͤten-
ton
aus dir erzwingen? Biſt du Trompete — willſt du ſchallen lernen wie die Trommel? Aber
dieſelbe Violin, ſo oder ſo geſpannt, ſo oder ſo gehalten — ſo oder ſo geſtrichen — wie unendlich
mannichfaltige Toͤne kann ſie von ſich geben — nur keinen Floͤtenton — ſo wenig die Trommel trom-
peten kann! Aber wie unendlich verſchieden kann die Trommel geruͤhrt werden!

Mit einer ſchlechten Feder kann ich nicht ſchoͤn ſchreiben; aber ſchoͤn und ſchlecht mit einer
ſchoͤnen. Jch kann nicht Weisheit reden, wenn ich dumm bin; aber dumm reden, wenn ich weiſe
bin. Nicht geben, wenn ich nicht habe; aber wenn ich habe, geben, oder behalten, brauchen, oder
nicht brauchen. Mit tauſend Gulden kann ich kaufen nicht alles, was ich will — aber dennoch
ſteht es mir frey, unter unzaͤhligen Dingen, deren Werth dieſe Summe nicht uͤberſteigt — auszu-
leſen. Alſo bin ich frey und nicht frey; von meiner innern und aͤußern Organiſation haͤngt die
Summe meiner Kraͤfte, der Grad meiner Aktivitaͤt und Paſſivitaͤt ab. Von den aͤußern Umſtaͤn-
den, Erweckungen, Veranlaſſungen, Menſchen, Buͤchern, Schickſalen, der Gebrauch, den ich
von dem beſtimmten Maaße meiner Kraͤfte machen kann. Nicht an jemandes Wollen oder

Laufen
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[117/0145] Ueber Freyheit und Nichtfreyheit des Menſchen. hieher und nicht weiter — aber ſo weit! ruft Gottes Stimme Wahrheit, Phyſiognomik jedem Menſchen zu, der Ohren hat zu hoͤren: Sey, was du biſt, und werde, was du kannſt. Jedes Menſchen Phyſiognomie und Charakter kann ſich erſtaunlich veraͤndern; aber doch nur auf eine ſo und ſo beſtimmte Weiſe. Jeder hat einen großen Spielraum — der kleinſte ein gut groß Stuͤck Feld, auf welches er mancherley, nach des Bodens Art, ſaͤen kann. Aber er kann nur den Saamen ſaͤen, den er empfieng, und nur den Boden bauen, auf den er hingeſtellt iſt. Jn dem großen Hauſe Gottes ſind zur Ehre des Hausherrn goldene, ſilberne und hoͤlzerne Gefaͤße; alle tauglich, alle nuͤtzlich — alle Gottesempfaͤnglich; alle Werkzeuge der Gottheit — alles Ge- danken, Offenbarungen von ihm! Alles Worte ſeiner Kraft und Weisheit — aber das Hoͤlzerne bleibt hoͤlzern, das Silberne ſilbern, das Goldene golden. Das Goldene kann ungebraucht ver- altern; aber es bleibt golden. Das Hoͤlzerne kann nuͤtzlicher werden, als das Goldene; aber es bleibt hoͤlzern. Keine Erziehung, keine Anſtrengung, kein Aufſtreben der Jmagination ohne tiefe innere Ahndung und Gefuͤhl der Kraft — kann uns eine andere Natur geben. Laß jeden Men- ſchen das ſeyn, was er iſt; und ſey du das, und nichts anders, als was du biſt; ſo biſt du Gott und Menſchen und dir ſelber gut genug. — Biſt du Violin — willſt du Floͤten- ton aus dir erzwingen? Biſt du Trompete — willſt du ſchallen lernen wie die Trommel? Aber dieſelbe Violin, ſo oder ſo geſpannt, ſo oder ſo gehalten — ſo oder ſo geſtrichen — wie unendlich mannichfaltige Toͤne kann ſie von ſich geben — nur keinen Floͤtenton — ſo wenig die Trommel trom- peten kann! Aber wie unendlich verſchieden kann die Trommel geruͤhrt werden! Mit einer ſchlechten Feder kann ich nicht ſchoͤn ſchreiben; aber ſchoͤn und ſchlecht mit einer ſchoͤnen. Jch kann nicht Weisheit reden, wenn ich dumm bin; aber dumm reden, wenn ich weiſe bin. Nicht geben, wenn ich nicht habe; aber wenn ich habe, geben, oder behalten, brauchen, oder nicht brauchen. Mit tauſend Gulden kann ich kaufen nicht alles, was ich will — aber dennoch ſteht es mir frey, unter unzaͤhligen Dingen, deren Werth dieſe Summe nicht uͤberſteigt — auszu- leſen. Alſo bin ich frey und nicht frey; von meiner innern und aͤußern Organiſation haͤngt die Summe meiner Kraͤfte, der Grad meiner Aktivitaͤt und Paſſivitaͤt ab. Von den aͤußern Umſtaͤn- den, Erweckungen, Veranlaſſungen, Menſchen, Buͤchern, Schickſalen, der Gebrauch, den ich von dem beſtimmten Maaße meiner Kraͤfte machen kann. Nicht an jemandes Wollen oder Laufen P 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/145>, abgerufen am 29.04.2024.