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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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VIII. Abschnitt. I. Fragment.

Läßigkeit, Lockerheit aber ist der reinen Ehrlichkeit gerade so zuwider, wie Anstren-
gung. Wer weniger thut, als er kann, ist so unehrlich, wie der, der mehr thut.
We-
niger geben und mehr geben, als man hat -- und gefordert werden kann, ist Unredlichkeit. Träg-
heit
heißt weniger; Eitelkeit mehr geben. Das eine macht läßig; das andre strengt an.

Jm mehr und weniger also nicht der Kraft, sondern der Anwendung seiner Kraft be-
steht die Unredlichkeit. Kein Mensch ist von Natur unredlich. Gott schafft alles unschul-
dig und aufrichtig.
Aber das mehr seyn wollen, als man ist; das weniger seyn, als man
seyn kann -- das macht den Menschen unredlich. Aus diesen Betrachtungen ergeben sich die allge-
meinen Kennzeichen der Ehrlichkeit. -- Und diese sind Natürlichkeit, lebendige Kraft, die nicht
wild und nicht matt ist. --

Also natürlicher Ton der Stimme -- unschleichend sanft; schnell und fest und sich leicht
wendend nach dem Jnnhalt der Rede -- unangestrengter und unläßiger Gang -- eben solche Hand-
schrift;
solche Art der Thätigkeit, der Bewegung -- solcher Ton der Liebe, der Freund-
schaft,
der Gefälligkeit, der Höflichkeit.

Vornehmlich erkenne ich, wie den wahren Weisen, so den ächt Ehrlichen aus der Art, wie
er hört.
Da muß sich Kraft und Güte und ihr Verhältniß gegen einander am leichtesten zeigen.

Ein gewisses Licht der Augen -- Helle des Blickes, in welchem Ruhe und Bewegsam-
keit
sich zu vereinigen scheinen -- Ein Mittellicht zwischen Blitz und Mattigkeit. Ein Mund
ohne schiefe Verzerrung; Harmonie
zwischen der Bewegung des Auges und der Lippen.
Eine Gesichtsfarbe, die weder zu erdig, noch zu sanguinisch und milchigt ist --

Zeichen, die sehr vielen redlichen Gesichtern mangeln, aber äußerst selten auf einem unred-
lichen Gesichte sich vereinigen können.

Ein Mensch, der bey herzlichem Gelächter keine Züge des Hohnes blicken läßt; wenn
er zu lachen aufhört, still heiter fortlächelt -- und über dessen Gesichte nach dem Gelächter sich ru-
hige frohe Stille
verbreitet -- hat viel Anspruch auf den Glauben anderer an seine Redlichkeit.
Jn nichts zeigt sich Redlichkeit und Unredlichkeit, wie im Lachen, Lächeln, Nichtlachen, und
Nichtlächeln.

Wo
VIII. Abſchnitt. I. Fragment.

Laͤßigkeit, Lockerheit aber iſt der reinen Ehrlichkeit gerade ſo zuwider, wie Anſtren-
gung. Wer weniger thut, als er kann, iſt ſo unehrlich, wie der, der mehr thut.
We-
niger geben und mehr geben, als man hat — und gefordert werden kann, iſt Unredlichkeit. Traͤg-
heit
heißt weniger; Eitelkeit mehr geben. Das eine macht laͤßig; das andre ſtrengt an.

Jm mehr und weniger alſo nicht der Kraft, ſondern der Anwendung ſeiner Kraft be-
ſteht die Unredlichkeit. Kein Menſch iſt von Natur unredlich. Gott ſchafft alles unſchul-
dig und aufrichtig.
Aber das mehr ſeyn wollen, als man iſt; das weniger ſeyn, als man
ſeyn kann — das macht den Menſchen unredlich. Aus dieſen Betrachtungen ergeben ſich die allge-
meinen Kennzeichen der Ehrlichkeit. — Und dieſe ſind Natuͤrlichkeit, lebendige Kraft, die nicht
wild und nicht matt iſt. —

Alſo natuͤrlicher Ton der Stimme — unſchleichend ſanft; ſchnell und feſt und ſich leicht
wendend nach dem Jnnhalt der Rede — unangeſtrengter und unlaͤßiger Gang — eben ſolche Hand-
ſchrift;
ſolche Art der Thaͤtigkeit, der Bewegung — ſolcher Ton der Liebe, der Freund-
ſchaft,
der Gefaͤlligkeit, der Hoͤflichkeit.

Vornehmlich erkenne ich, wie den wahren Weiſen, ſo den aͤcht Ehrlichen aus der Art, wie
er hoͤrt.
Da muß ſich Kraft und Guͤte und ihr Verhaͤltniß gegen einander am leichteſten zeigen.

Ein gewiſſes Licht der Augen — Helle des Blickes, in welchem Ruhe und Bewegſam-
keit
ſich zu vereinigen ſcheinen — Ein Mittellicht zwiſchen Blitz und Mattigkeit. Ein Mund
ohne ſchiefe Verzerrung; Harmonie
zwiſchen der Bewegung des Auges und der Lippen.
Eine Geſichtsfarbe, die weder zu erdig, noch zu ſanguiniſch und milchigt iſt —

Zeichen, die ſehr vielen redlichen Geſichtern mangeln, aber aͤußerſt ſelten auf einem unred-
lichen Geſichte ſich vereinigen koͤnnen.

Ein Menſch, der bey herzlichem Gelaͤchter keine Zuͤge des Hohnes blicken laͤßt; wenn
er zu lachen aufhoͤrt, ſtill heiter fortlaͤchelt — und uͤber deſſen Geſichte nach dem Gelaͤchter ſich ru-
hige frohe Stille
verbreitet — hat viel Anſpruch auf den Glauben anderer an ſeine Redlichkeit.
Jn nichts zeigt ſich Redlichkeit und Unredlichkeit, wie im Lachen, Laͤcheln, Nichtlachen, und
Nichtlaͤcheln.

Wo
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[394/0476] VIII. Abſchnitt. I. Fragment. Laͤßigkeit, Lockerheit aber iſt der reinen Ehrlichkeit gerade ſo zuwider, wie Anſtren- gung. Wer weniger thut, als er kann, iſt ſo unehrlich, wie der, der mehr thut. We- niger geben und mehr geben, als man hat — und gefordert werden kann, iſt Unredlichkeit. Traͤg- heit heißt weniger; Eitelkeit mehr geben. Das eine macht laͤßig; das andre ſtrengt an. Jm mehr und weniger alſo nicht der Kraft, ſondern der Anwendung ſeiner Kraft be- ſteht die Unredlichkeit. Kein Menſch iſt von Natur unredlich. Gott ſchafft alles unſchul- dig und aufrichtig. Aber das mehr ſeyn wollen, als man iſt; das weniger ſeyn, als man ſeyn kann — das macht den Menſchen unredlich. Aus dieſen Betrachtungen ergeben ſich die allge- meinen Kennzeichen der Ehrlichkeit. — Und dieſe ſind Natuͤrlichkeit, lebendige Kraft, die nicht wild und nicht matt iſt. — Alſo natuͤrlicher Ton der Stimme — unſchleichend ſanft; ſchnell und feſt und ſich leicht wendend nach dem Jnnhalt der Rede — unangeſtrengter und unlaͤßiger Gang — eben ſolche Hand- ſchrift; ſolche Art der Thaͤtigkeit, der Bewegung — ſolcher Ton der Liebe, der Freund- ſchaft, der Gefaͤlligkeit, der Hoͤflichkeit. Vornehmlich erkenne ich, wie den wahren Weiſen, ſo den aͤcht Ehrlichen aus der Art, wie er hoͤrt. Da muß ſich Kraft und Guͤte und ihr Verhaͤltniß gegen einander am leichteſten zeigen. Ein gewiſſes Licht der Augen — Helle des Blickes, in welchem Ruhe und Bewegſam- keit ſich zu vereinigen ſcheinen — Ein Mittellicht zwiſchen Blitz und Mattigkeit. Ein Mund ohne ſchiefe Verzerrung; Harmonie zwiſchen der Bewegung des Auges und der Lippen. Eine Geſichtsfarbe, die weder zu erdig, noch zu ſanguiniſch und milchigt iſt — Zeichen, die ſehr vielen redlichen Geſichtern mangeln, aber aͤußerſt ſelten auf einem unred- lichen Geſichte ſich vereinigen koͤnnen. Ein Menſch, der bey herzlichem Gelaͤchter keine Zuͤge des Hohnes blicken laͤßt; wenn er zu lachen aufhoͤrt, ſtill heiter fortlaͤchelt — und uͤber deſſen Geſichte nach dem Gelaͤchter ſich ru- hige frohe Stille verbreitet — hat viel Anſpruch auf den Glauben anderer an ſeine Redlichkeit. Jn nichts zeigt ſich Redlichkeit und Unredlichkeit, wie im Lachen, Laͤcheln, Nichtlachen, und Nichtlaͤcheln. Wo

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/476>, abgerufen am 29.04.2024.