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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Christusbilder.

Die Hände sind von großer Wahrheit, Bedeutung und Harmonie mit dem Ganzen; nicht
nur an sich vortrefflich gezeichnet, sondern eines edeln, gütigen, einfaltvollen Charakters. Am vör-
dersten Gelenke des Zeigefingers ist in der Copie etwas verfehlt. Und das Kind?*) Form, Umriß,
Gebärdung, Blick, Lage, alles spricht, alles blickt, alles athmet Einfalt und Kindlichkeit. Die frey
kindliche unakademische Lage allein schon zeigt uns den großen Sinn, der den Mahler beseelte. Und
was mir sehr gefällt, das Kind ist nichts weniger als Jdeal. Es giebt schönere Kinder, die aber
dann nicht diesen Charakter der reinen Einfalt haben. Mir scheint's Bild des Mahlers selbst in sei-
ner jugendlichen Unschuld zu seyn. Stirn und Nase wenigstens haben den Charakter der seinigen.
Die Oberlippe hätte ich etwas mehr gezeichnet, etwas vorstehender und von der Nase entfernter ge-
wünscht.

M. Ein
*) [Spaltenumbruch] Das Kind im Originalgemählde ist so unnach-
ahmlich sanft und rein colorirt, daß es scheint, der
Mahler habe seinen Pinsel in Morgenröthen der Unschuld
getaucht.
Beylage.
Aus einem Briefe des Verfassers an Herrn West,
der ihm das große kostbare Gemählde, wovon dieß die
Copie ist, zum Geschenke sendete.
"Mein vortrefflicher Freund! -- so muß ich Sie
"nennen; Jhre Güte giebt mir das Recht dazu. Nicht
"durch leere Worte, durch ein Geschenk von Jhrer theu-
"ren Hand, das mir auch noch Geschenk wäre, wenn
"Sie Bezahlung forderten -- Mein vortrefflicher
"Freund, wie soll ich das erstemal an Sie schreiben, da
"ich als doppelter Schuldner vor Jhnen erscheine --
"was kann ich sagen? Ach! wie nichts ist, wenn ich sa-
"ge: Auf den äußersten Zehen steht und horcht meine
"Dankempfindung etwas auszuhorchen, das Jhnen so
"viel Vergnügen machte, als mir Jhr Christus mit der
"kindlichen Unschuld macht. Lieber West, lassen Sie
"mich Jhnen unterdessen im Geiste die Hand küssen --
"und Jhnen einen Theil meiner Empfindungen bey Jh-
"rem Gemählde mittheilen; einen Theil, denn je mehr
"ichs besehe, desto mehr empfindet mein Herz dabey;
"desto mehr Weisheit, Ueberlegung, edle Einfalt finde
"ich drinn; desto mehr Adel und Harmonie im Gan-
"zen so still in Eins zusammenschmelzenden! Das Gan-
"ze hat so ganz das Gepräge, den Ton des Einzelnen;
[Spaltenumbruch] "das Einzelne des Ganzen. Alles ist Eins -- jeder
"Zug, jeder Farbenstrich -- geht aus Kindereinfalt in
"Kindereinfalt. Das Kind, wie ist's so ganz Kind! so
"ganz in Figur, Lage, Gebärdung, Blick, Colorit, Run-
"dung -- Der Mann Christus -- wie ist er Kind! Sein
"Gesicht sagt dem Auge, was sein offner Mund dem
"Ohre sagen würde, wenn er lebte! Welche Einfalt im
"Auge! welche Kindheit und Leidenschaftlosigkeit in der
"Nase .. und in der Stirne! die kleine (in der Copie
"weggelassene) Schattirung ausgenommen, deren Sinn
"ich noch nicht erreicht habe! das lichtbräunliche Haar,
"wie harmonisch! wie wahr! wie meisterhaft der helle
"Grund ums Haupt! die Hände, wie herrlich gezeich-
"net! wie edel! wie physiognomisch! -- Recht ganz
"scheinen Sie, mein Freund, das Physiognomische in
"den Händen, das von so wenig Mahlern und Phy-
"siognomisten gefühlt wird, zu fühlen. Wenn nur, mein
"Theurer! das Gemählde glücklich ins Kleine gebracht
"wird! Aber wie viel wird's verlieren, bis es vom Ku-
"pfer abgedruckt werden kann! Doch was möglich ist,
"soll geschehen! -- Jch kann und will nichts mehr sa-
"gen, als: Wenn ich diesen Kindersinn habe, den Sie
"so trefflich aus ihrer eignen Seele heraus gemahlt zu
"haben scheinen -- so wird es mir oft ein süßer Ge-
"danke seyn, wenn ich Sie in diesem Leben niemals se-
"hen soll -- daß ich Sie dort an der Hand dessen fin-
"den werde, den kein Engelspinsel nachzuzeichnen, kei-
"ne Zunge zu nennen würdig ist. Jch umarme Sie
"herzlich." Zürich, den 19. Sept. 1777.
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Chriſtusbilder.

Die Haͤnde ſind von großer Wahrheit, Bedeutung und Harmonie mit dem Ganzen; nicht
nur an ſich vortrefflich gezeichnet, ſondern eines edeln, guͤtigen, einfaltvollen Charakters. Am voͤr-
derſten Gelenke des Zeigefingers iſt in der Copie etwas verfehlt. Und das Kind?*) Form, Umriß,
Gebaͤrdung, Blick, Lage, alles ſpricht, alles blickt, alles athmet Einfalt und Kindlichkeit. Die frey
kindliche unakademiſche Lage allein ſchon zeigt uns den großen Sinn, der den Mahler beſeelte. Und
was mir ſehr gefaͤllt, das Kind iſt nichts weniger als Jdeal. Es giebt ſchoͤnere Kinder, die aber
dann nicht dieſen Charakter der reinen Einfalt haben. Mir ſcheint’s Bild des Mahlers ſelbſt in ſei-
ner jugendlichen Unſchuld zu ſeyn. Stirn und Naſe wenigſtens haben den Charakter der ſeinigen.
Die Oberlippe haͤtte ich etwas mehr gezeichnet, etwas vorſtehender und von der Naſe entfernter ge-
wuͤnſcht.

M. Ein
*) [Spaltenumbruch] Das Kind im Originalgemaͤhlde iſt ſo unnach-
ahmlich ſanft und rein colorirt, daß es ſcheint, der
Mahler habe ſeinen Pinſel in Morgenroͤthen der Unſchuld
getaucht.
Beylage.
Aus einem Briefe des Verfaſſers an Herrn Weſt,
der ihm das große koſtbare Gemaͤhlde, wovon dieß die
Copie iſt, zum Geſchenke ſendete.
„Mein vortrefflicher Freund! — ſo muß ich Sie
„nennen; Jhre Guͤte giebt mir das Recht dazu. Nicht
„durch leere Worte, durch ein Geſchenk von Jhrer theu-
„ren Hand, das mir auch noch Geſchenk waͤre, wenn
„Sie Bezahlung forderten — Mein vortrefflicher
„Freund, wie ſoll ich das erſtemal an Sie ſchreiben, da
„ich als doppelter Schuldner vor Jhnen erſcheine —
„was kann ich ſagen? Ach! wie nichts iſt, wenn ich ſa-
„ge: Auf den aͤußerſten Zehen ſteht und horcht meine
„Dankempfindung etwas auszuhorchen, das Jhnen ſo
„viel Vergnuͤgen machte, als mir Jhr Chriſtus mit der
„kindlichen Unſchuld macht. Lieber Weſt, laſſen Sie
„mich Jhnen unterdeſſen im Geiſte die Hand kuͤſſen —
„und Jhnen einen Theil meiner Empfindungen bey Jh-
„rem Gemaͤhlde mittheilen; einen Theil, denn je mehr
„ichs beſehe, deſto mehr empfindet mein Herz dabey;
„deſto mehr Weisheit, Ueberlegung, edle Einfalt finde
„ich drinn; deſto mehr Adel und Harmonie im Gan-
„zen ſo ſtill in Eins zuſammenſchmelzenden! Das Gan-
„ze hat ſo ganz das Gepraͤge, den Ton des Einzelnen;
[Spaltenumbruch] „das Einzelne des Ganzen. Alles iſt Eins — jeder
„Zug, jeder Farbenſtrich — geht aus Kindereinfalt in
„Kindereinfalt. Das Kind, wie iſt’s ſo ganz Kind! ſo
„ganz in Figur, Lage, Gebaͤrdung, Blick, Colorit, Run-
„dung — Der Mann Chriſtus — wie iſt er Kind! Sein
„Geſicht ſagt dem Auge, was ſein offner Mund dem
„Ohre ſagen wuͤrde, wenn er lebte! Welche Einfalt im
„Auge! welche Kindheit und Leidenſchaftloſigkeit in der
„Naſe .. und in der Stirne! die kleine (in der Copie
„weggelaſſene) Schattirung ausgenommen, deren Sinn
„ich noch nicht erreicht habe! das lichtbraͤunliche Haar,
„wie harmoniſch! wie wahr! wie meiſterhaft der helle
„Grund ums Haupt! die Haͤnde, wie herrlich gezeich-
„net! wie edel! wie phyſiognomiſch! — Recht ganz
„ſcheinen Sie, mein Freund, das Phyſiognomiſche in
„den Haͤnden, das von ſo wenig Mahlern und Phy-
„ſiognomiſten gefuͤhlt wird, zu fuͤhlen. Wenn nur, mein
„Theurer! das Gemaͤhlde gluͤcklich ins Kleine gebracht
„wird! Aber wie viel wird’s verlieren, bis es vom Ku-
„pfer abgedruckt werden kann! Doch was moͤglich iſt,
„ſoll geſchehen! — Jch kann und will nichts mehr ſa-
„gen, als: Wenn ich dieſen Kinderſinn habe, den Sie
„ſo trefflich aus ihrer eignen Seele heraus gemahlt zu
„haben ſcheinen — ſo wird es mir oft ein ſuͤßer Ge-
„danke ſeyn, wenn ich Sie in dieſem Leben niemals ſe-
„hen ſoll — daß ich Sie dort an der Hand deſſen fin-
„den werde, den kein Engelspinſel nachzuzeichnen, kei-
„ne Zunge zu nennen wuͤrdig iſt. Jch umarme Sie
„herzlich.“ Zuͤrich, den 19. Sept. 1777.
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[451/0591] Chriſtusbilder. Die Haͤnde ſind von großer Wahrheit, Bedeutung und Harmonie mit dem Ganzen; nicht nur an ſich vortrefflich gezeichnet, ſondern eines edeln, guͤtigen, einfaltvollen Charakters. Am voͤr- derſten Gelenke des Zeigefingers iſt in der Copie etwas verfehlt. Und das Kind? *) Form, Umriß, Gebaͤrdung, Blick, Lage, alles ſpricht, alles blickt, alles athmet Einfalt und Kindlichkeit. Die frey kindliche unakademiſche Lage allein ſchon zeigt uns den großen Sinn, der den Mahler beſeelte. Und was mir ſehr gefaͤllt, das Kind iſt nichts weniger als Jdeal. Es giebt ſchoͤnere Kinder, die aber dann nicht dieſen Charakter der reinen Einfalt haben. Mir ſcheint’s Bild des Mahlers ſelbſt in ſei- ner jugendlichen Unſchuld zu ſeyn. Stirn und Naſe wenigſtens haben den Charakter der ſeinigen. Die Oberlippe haͤtte ich etwas mehr gezeichnet, etwas vorſtehender und von der Naſe entfernter ge- wuͤnſcht. M. Ein *) Das Kind im Originalgemaͤhlde iſt ſo unnach- ahmlich ſanft und rein colorirt, daß es ſcheint, der Mahler habe ſeinen Pinſel in Morgenroͤthen der Unſchuld getaucht. Beylage. Aus einem Briefe des Verfaſſers an Herrn Weſt, der ihm das große koſtbare Gemaͤhlde, wovon dieß die Copie iſt, zum Geſchenke ſendete. „Mein vortrefflicher Freund! — ſo muß ich Sie „nennen; Jhre Guͤte giebt mir das Recht dazu. Nicht „durch leere Worte, durch ein Geſchenk von Jhrer theu- „ren Hand, das mir auch noch Geſchenk waͤre, wenn „Sie Bezahlung forderten — Mein vortrefflicher „Freund, wie ſoll ich das erſtemal an Sie ſchreiben, da „ich als doppelter Schuldner vor Jhnen erſcheine — „was kann ich ſagen? Ach! wie nichts iſt, wenn ich ſa- „ge: Auf den aͤußerſten Zehen ſteht und horcht meine „Dankempfindung etwas auszuhorchen, das Jhnen ſo „viel Vergnuͤgen machte, als mir Jhr Chriſtus mit der „kindlichen Unſchuld macht. Lieber Weſt, laſſen Sie „mich Jhnen unterdeſſen im Geiſte die Hand kuͤſſen — „und Jhnen einen Theil meiner Empfindungen bey Jh- „rem Gemaͤhlde mittheilen; einen Theil, denn je mehr „ichs beſehe, deſto mehr empfindet mein Herz dabey; „deſto mehr Weisheit, Ueberlegung, edle Einfalt finde „ich drinn; deſto mehr Adel und Harmonie im Gan- „zen ſo ſtill in Eins zuſammenſchmelzenden! Das Gan- „ze hat ſo ganz das Gepraͤge, den Ton des Einzelnen; „das Einzelne des Ganzen. Alles iſt Eins — jeder „Zug, jeder Farbenſtrich — geht aus Kindereinfalt in „Kindereinfalt. Das Kind, wie iſt’s ſo ganz Kind! ſo „ganz in Figur, Lage, Gebaͤrdung, Blick, Colorit, Run- „dung — Der Mann Chriſtus — wie iſt er Kind! Sein „Geſicht ſagt dem Auge, was ſein offner Mund dem „Ohre ſagen wuͤrde, wenn er lebte! Welche Einfalt im „Auge! welche Kindheit und Leidenſchaftloſigkeit in der „Naſe .. und in der Stirne! die kleine (in der Copie „weggelaſſene) Schattirung ausgenommen, deren Sinn „ich noch nicht erreicht habe! das lichtbraͤunliche Haar, „wie harmoniſch! wie wahr! wie meiſterhaft der helle „Grund ums Haupt! die Haͤnde, wie herrlich gezeich- „net! wie edel! wie phyſiognomiſch! — Recht ganz „ſcheinen Sie, mein Freund, das Phyſiognomiſche in „den Haͤnden, das von ſo wenig Mahlern und Phy- „ſiognomiſten gefuͤhlt wird, zu fuͤhlen. Wenn nur, mein „Theurer! das Gemaͤhlde gluͤcklich ins Kleine gebracht „wird! Aber wie viel wird’s verlieren, bis es vom Ku- „pfer abgedruckt werden kann! Doch was moͤglich iſt, „ſoll geſchehen! — Jch kann und will nichts mehr ſa- „gen, als: Wenn ich dieſen Kinderſinn habe, den Sie „ſo trefflich aus ihrer eignen Seele heraus gemahlt zu „haben ſcheinen — ſo wird es mir oft ein ſuͤßer Ge- „danke ſeyn, wenn ich Sie in dieſem Leben niemals ſe- „hen ſoll — daß ich Sie dort an der Hand deſſen fin- „den werde, den kein Engelspinſel nachzuzeichnen, kei- „ne Zunge zu nennen wuͤrdig iſt. Jch umarme Sie „herzlich.“ Zuͤrich, den 19. Sept. 1777. L l l 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/591>, abgerufen am 27.04.2024.