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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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auf die menschliche Bildung. Riesen und Zwerge.

Könnte es nicht solche Augenblicke der Seele geben, wo die Einbildungskraft auf eine ähn-
liche, eben so unbegreifliche Weise auf künftige Kinder wirkte? Die Unbegreiflichkeit hat was Em-
pörendes. Jch fühl' es ganz. Aber -- hat sie nicht eben das in den vorigen Beyspielen? in
allen Beyspielen dieser Art? Wie sie Krüppel bilden kann, die's erst einige Jahre nach der Ge-
burt werden -- und dieß ist tägliche Erfahrung -- Kann sie nicht auf dieselbe unbegreifliche Wei-
se, wenn ich so sagen darf, den Saamen der Riesenheit und der Zwergheit in die Frucht hineinima-
giniren, der sich erst nach Jahren im gebornen Menschen entwickelt? --

Könnte eine Frau ein genaues Verzeichniß führen von den kraftvollen Jmaginationsmo-
menten, die während ihrer Schwangerschaft ihre Seele durchschneiden -- Sie könnte vielleicht die
Hauptepochen von dem philosophischen, moralischen, intellektuellen, physiognomischen Schicksale
ihres Kindes zum voraus erkennen. Die durch Sehnsucht, Liebe, Haß der innersten Menschheit
bewegte Einbildungskraft kann mit Blitzschneller Eile -- tödten und lebendig machen -- vergrös-
sern, verkleinern -- den Keim von Vergrößerung und Verkleinerung, Weisheit und Thorheit,
Tod und Leben, der sich erst zu einer bestimmten Zeit, und unter bestimmten Umständen entwickeln
soll, dem organischen Fötus einpregniren. Diese noch unerforschte, aber bisweilen entscheidend
sich offenbarende Verwandlungs- und Schöpfungskraft der Seele ist sehr wahrscheinlich dem We-
sentlichen, der Wurzel nach Eins mit dem sogenannten Wunderglauben, der wohl durch äußere
Veranlassungen entwickelt und genährt werden kann, wo er ist; aber nicht dozirt oder eingegossen
werden, wo er nicht ist -- Die nähere Beleuchtung dieser hier hingeworfenen Vermuthungen und
Ahndungen, die ich auch für weiter nichts, als das gehalten wissen will -- führte vielleicht zu den
tiefsten Geheimnissen der Physiognomik. Sed manum de Tabula.

[Abbildung]
Erste
auf die menſchliche Bildung. Rieſen und Zwerge.

Koͤnnte es nicht ſolche Augenblicke der Seele geben, wo die Einbildungskraft auf eine aͤhn-
liche, eben ſo unbegreifliche Weiſe auf kuͤnftige Kinder wirkte? Die Unbegreiflichkeit hat was Em-
poͤrendes. Jch fuͤhl’ es ganz. Aber — hat ſie nicht eben das in den vorigen Beyſpielen? in
allen Beyſpielen dieſer Art? Wie ſie Kruͤppel bilden kann, die’s erſt einige Jahre nach der Ge-
burt werden — und dieß iſt taͤgliche Erfahrung — Kann ſie nicht auf dieſelbe unbegreifliche Wei-
ſe, wenn ich ſo ſagen darf, den Saamen der Rieſenheit und der Zwergheit in die Frucht hineinima-
giniren, der ſich erſt nach Jahren im gebornen Menſchen entwickelt? —

Koͤnnte eine Frau ein genaues Verzeichniß fuͤhren von den kraftvollen Jmaginationsmo-
menten, die waͤhrend ihrer Schwangerſchaft ihre Seele durchſchneiden — Sie koͤnnte vielleicht die
Hauptepochen von dem philoſophiſchen, moraliſchen, intellektuellen, phyſiognomiſchen Schickſale
ihres Kindes zum voraus erkennen. Die durch Sehnſucht, Liebe, Haß der innerſten Menſchheit
bewegte Einbildungskraft kann mit Blitzſchneller Eile — toͤdten und lebendig machen — vergroͤſ-
ſern, verkleinern — den Keim von Vergroͤßerung und Verkleinerung, Weisheit und Thorheit,
Tod und Leben, der ſich erſt zu einer beſtimmten Zeit, und unter beſtimmten Umſtaͤnden entwickeln
ſoll, dem organiſchen Foͤtus einpregniren. Dieſe noch unerforſchte, aber bisweilen entſcheidend
ſich offenbarende Verwandlungs- und Schoͤpfungskraft der Seele iſt ſehr wahrſcheinlich dem We-
ſentlichen, der Wurzel nach Eins mit dem ſogenannten Wunderglauben, der wohl durch aͤußere
Veranlaſſungen entwickelt und genaͤhrt werden kann, wo er iſt; aber nicht dozirt oder eingegoſſen
werden, wo er nicht iſt — Die naͤhere Beleuchtung dieſer hier hingeworfenen Vermuthungen und
Ahndungen, die ich auch fuͤr weiter nichts, als das gehalten wiſſen will — fuͤhrte vielleicht zu den
tiefſten Geheimniſſen der Phyſiognomik. Sed manum de Tabula.

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Erſte
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[71/0097] auf die menſchliche Bildung. Rieſen und Zwerge. Koͤnnte es nicht ſolche Augenblicke der Seele geben, wo die Einbildungskraft auf eine aͤhn- liche, eben ſo unbegreifliche Weiſe auf kuͤnftige Kinder wirkte? Die Unbegreiflichkeit hat was Em- poͤrendes. Jch fuͤhl’ es ganz. Aber — hat ſie nicht eben das in den vorigen Beyſpielen? in allen Beyſpielen dieſer Art? Wie ſie Kruͤppel bilden kann, die’s erſt einige Jahre nach der Ge- burt werden — und dieß iſt taͤgliche Erfahrung — Kann ſie nicht auf dieſelbe unbegreifliche Wei- ſe, wenn ich ſo ſagen darf, den Saamen der Rieſenheit und der Zwergheit in die Frucht hineinima- giniren, der ſich erſt nach Jahren im gebornen Menſchen entwickelt? — Koͤnnte eine Frau ein genaues Verzeichniß fuͤhren von den kraftvollen Jmaginationsmo- menten, die waͤhrend ihrer Schwangerſchaft ihre Seele durchſchneiden — Sie koͤnnte vielleicht die Hauptepochen von dem philoſophiſchen, moraliſchen, intellektuellen, phyſiognomiſchen Schickſale ihres Kindes zum voraus erkennen. Die durch Sehnſucht, Liebe, Haß der innerſten Menſchheit bewegte Einbildungskraft kann mit Blitzſchneller Eile — toͤdten und lebendig machen — vergroͤſ- ſern, verkleinern — den Keim von Vergroͤßerung und Verkleinerung, Weisheit und Thorheit, Tod und Leben, der ſich erſt zu einer beſtimmten Zeit, und unter beſtimmten Umſtaͤnden entwickeln ſoll, dem organiſchen Foͤtus einpregniren. Dieſe noch unerforſchte, aber bisweilen entſcheidend ſich offenbarende Verwandlungs- und Schoͤpfungskraft der Seele iſt ſehr wahrſcheinlich dem We- ſentlichen, der Wurzel nach Eins mit dem ſogenannten Wunderglauben, der wohl durch aͤußere Veranlaſſungen entwickelt und genaͤhrt werden kann, wo er iſt; aber nicht dozirt oder eingegoſſen werden, wo er nicht iſt — Die naͤhere Beleuchtung dieſer hier hingeworfenen Vermuthungen und Ahndungen, die ich auch fuͤr weiter nichts, als das gehalten wiſſen will — fuͤhrte vielleicht zu den tiefſten Geheimniſſen der Phyſiognomik. Sed manum de Tabula. [Abbildung] Erſte

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/97>, abgerufen am 30.04.2024.