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Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.

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Das Blatt am Baume spricht: O Himmelswind! ple_118.002
Als ich verhüllt in meiner Knospe lag: ple_118.003
"Willst du nicht aufstehn, Kind? Es ist ja Tag!" ple_118.004
So riefest du, und kos'test weich und lind. ple_118.005
Wie kommst du nun geschwind ple_118.006
Und gibst den Todesschlag ple_118.007
Mit deiner eis'gen Schwinge deinem Kind! ple_118.008
Warum hat mich ins Leben ple_118.009
Gerufen dein Gebot, ple_118.010
Wenn du dafür nur geben ple_118.011
Mir willst den bittern Tod!
ple_118.012
Es spricht ein Herz: O Liebe, Himmelslicht! ple_118.013
Wie kamest du zu meiner Kindheit Ruh, ple_118.014
Und rütteltest und flüstertest mir zu, ple_118.015
Und wobest mir ein glänzendes Gedicht. ple_118.016
Ich folgt in Zuversicht; ple_118.017
Und nun zertrümmerst du ple_118.018
Die kurze Täuschung, und mein Leben bricht. ple_118.019
Warum hat mich ins Leben ple_118.020
Gerufen dein Gebot, ple_118.021
Wenn du dafür nur geben ple_118.022
Mir willst den bittern Tod!
ple_118.023
Kommt, laßt uns klagen mit vereintem Mund, ple_118.024
Ein Blatt, ein Menschenherz, ein Blumensproß: ple_118.025
Tau, Windesspiel, Licht, das vom Himmel floß, ple_118.026
Die ihr uns habt in ungetreuem Bund ple_118.027
Vernichtet in den Grund! ple_118.028
Treu ist allein dein Schoß, ple_118.029
O Mutter Erde! Nieder nimm uns: Und ple_118.030
Es soll hinfort ins Leben ple_118.031
Uns rufen kein Gebot, ple_118.032
Das doch zuletzt nur geben ple_118.033
Uns will den bittern Tod!
ple_118.034
Still, still, ihr unzufriednen Kindelein! ple_118.035
(Die Mutter Erde spricht) was klagt ihr sehr? ple_118.036
Auf die dort oben scheltet mir nicht mehr; ple_118.037
Sie lassen euch, dafür nehm' ich euch ein. ple_118.038
Ihr habt mit ihnen fein ple_118.039
Gespielt nach Herzbegehr, ple_118.040
Und gerne tut ihr's wieder, wenn's kann sein. ple_118.041
Nun wohl! Euch wird ins Leben ple_118.042
Neu rufen ihr Gebot. ple_118.043
Jetzt wollt euch mir ergeben! ple_118.044
Nicht bitter ist der Tod!

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Das Blatt am Baume spricht: O Himmelswind! ple_118.002
Als ich verhüllt in meiner Knospe lag: ple_118.003
„Willst du nicht aufstehn, Kind? Es ist ja Tag!“ ple_118.004
So riefest du, und kos'test weich und lind. ple_118.005
Wie kommst du nun geschwind ple_118.006
Und gibst den Todesschlag ple_118.007
Mit deiner eis'gen Schwinge deinem Kind! ple_118.008
Warum hat mich ins Leben ple_118.009
Gerufen dein Gebot, ple_118.010
Wenn du dafür nur geben ple_118.011
Mir willst den bittern Tod!
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Es spricht ein Herz: O Liebe, Himmelslicht! ple_118.013
Wie kamest du zu meiner Kindheit Ruh, ple_118.014
Und rütteltest und flüstertest mir zu, ple_118.015
Und wobest mir ein glänzendes Gedicht. ple_118.016
Ich folgt in Zuversicht; ple_118.017
Und nun zertrümmerst du ple_118.018
Die kurze Täuschung, und mein Leben bricht. ple_118.019
Warum hat mich ins Leben ple_118.020
Gerufen dein Gebot, ple_118.021
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Mir willst den bittern Tod!
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Kommt, laßt uns klagen mit vereintem Mund, ple_118.024
Ein Blatt, ein Menschenherz, ein Blumensproß: ple_118.025
Tau, Windesspiel, Licht, das vom Himmel floß, ple_118.026
Die ihr uns habt in ungetreuem Bund ple_118.027
Vernichtet in den Grund! ple_118.028
Treu ist allein dein Schoß, ple_118.029
O Mutter Erde! Nieder nimm uns: Und ple_118.030
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Uns rufen kein Gebot, ple_118.032
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Uns will den bittern Tod!
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Still, still, ihr unzufriednen Kindelein! ple_118.035
(Die Mutter Erde spricht) was klagt ihr sehr? ple_118.036
Auf die dort oben scheltet mir nicht mehr; ple_118.037
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Gespielt nach Herzbegehr, ple_118.040
Und gerne tut ihr's wieder, wenn's kann sein. ple_118.041
Nun wohl! Euch wird ins Leben ple_118.042
Neu rufen ihr Gebot. ple_118.043
Jetzt wollt euch mir ergeben! ple_118.044
Nicht bitter ist der Tod!

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Zitationshilfe: Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehmann_poetik_1908/132>, abgerufen am 03.05.2024.