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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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davon zu finden. Diese Bedenklichkeit hätte
sich Corneille immer ersparen können. "Viel-
leicht,
sagt er, dürfte man zweifeln, ob sich die
Freyheit der Poesie so weit erstrecket, daß sie
unter bekannten Namen eine ganze Geschichte
erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe,
wo nach der Erzehlung im ersten Akte, welche
die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den
Wirkungen im fünften, nicht das geringste vor-
kömmt, welches einigen historischen Grund
hätte. Doch, fährt er fort, mich dünkt, wenn
wir nur das Resultat einer Geschichte beybehal-
ten, so sind alle vorläufige Umstände, alle Ein-
leitungen zu diesem Resultate in unserer Ge-
walt. Wenigstens wüßte ich mich keiner Regel
dawider zu erinnern, und die Ausübung der
Alten ist völlig auf meiner Seite. Denn man
vergleiche nur einmal die Elektra des Sophokles
mit der Elektra des Euripides, und sehe, ob sie
mehr mit einander gemein haben, als das bloße
Resultat, die letzten Wirkungen in den Begeg-
nissen ihrer Heldinn, zu welchen jeder auf einem
besondern Wege, durch ihm eigenthümliche Mit-
tel gelanget, so daß wenigstens eine davon noth-
wendig ganz und gar die Erfindung ihres Ver-
fassers seyn muß. Oder man werfe nur die Au-
gen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Ari-
stoteles zum Muster einer vollkommenen Tragö-
die giebt, und die doch sehr darnach aussieht,

daß

davon zu finden. Dieſe Bedenklichkeit haͤtte
ſich Corneille immer erſparen koͤnnen. 〟Viel-
leicht,
ſagt er, duͤrfte man zweifeln, ob ſich die
Freyheit der Poeſie ſo weit erſtrecket, daß ſie
unter bekannten Namen eine ganze Geſchichte
erdenken darf; ſo wie ich es hier gemacht habe,
wo nach der Erzehlung im erſten Akte, welche
die Grundlage des Folgenden iſt, bis zu den
Wirkungen im fuͤnften, nicht das geringſte vor-
koͤmmt, welches einigen hiſtoriſchen Grund
haͤtte. Doch, faͤhrt er fort, mich duͤnkt, wenn
wir nur das Reſultat einer Geſchichte beybehal-
ten, ſo ſind alle vorlaͤufige Umſtaͤnde, alle Ein-
leitungen zu dieſem Reſultate in unſerer Ge-
walt. Wenigſtens wuͤßte ich mich keiner Regel
dawider zu erinnern, und die Ausuͤbung der
Alten iſt voͤllig auf meiner Seite. Denn man
vergleiche nur einmal die Elektra des Sophokles
mit der Elektra des Euripides, und ſehe, ob ſie
mehr mit einander gemein haben, als das bloße
Reſultat, die letzten Wirkungen in den Begeg-
niſſen ihrer Heldinn, zu welchen jeder auf einem
beſondern Wege, durch ihm eigenthuͤmliche Mit-
tel gelanget, ſo daß wenigſtens eine davon noth-
wendig ganz und gar die Erfindung ihres Ver-
faſſers ſeyn muß. Oder man werfe nur die Au-
gen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Ari-
ſtoteles zum Muſter einer vollkommenen Tragoͤ-
die giebt, und die doch ſehr darnach ausſieht,

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[247/0261] davon zu finden. Dieſe Bedenklichkeit haͤtte ſich Corneille immer erſparen koͤnnen. 〟Viel- leicht, ſagt er, duͤrfte man zweifeln, ob ſich die Freyheit der Poeſie ſo weit erſtrecket, daß ſie unter bekannten Namen eine ganze Geſchichte erdenken darf; ſo wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzehlung im erſten Akte, welche die Grundlage des Folgenden iſt, bis zu den Wirkungen im fuͤnften, nicht das geringſte vor- koͤmmt, welches einigen hiſtoriſchen Grund haͤtte. Doch, faͤhrt er fort, mich duͤnkt, wenn wir nur das Reſultat einer Geſchichte beybehal- ten, ſo ſind alle vorlaͤufige Umſtaͤnde, alle Ein- leitungen zu dieſem Reſultate in unſerer Ge- walt. Wenigſtens wuͤßte ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausuͤbung der Alten iſt voͤllig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die Elektra des Sophokles mit der Elektra des Euripides, und ſehe, ob ſie mehr mit einander gemein haben, als das bloße Reſultat, die letzten Wirkungen in den Begeg- niſſen ihrer Heldinn, zu welchen jeder auf einem beſondern Wege, durch ihm eigenthuͤmliche Mit- tel gelanget, ſo daß wenigſtens eine davon noth- wendig ganz und gar die Erfindung ihres Ver- faſſers ſeyn muß. Oder man werfe nur die Au- gen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Ari- ſtoteles zum Muſter einer vollkommenen Tragoͤ- die giebt, und die doch ſehr darnach ausſieht, daß

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/261>, abgerufen am 27.04.2024.