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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"glück für geschehen, und bejammert ihren ge-
"habten Verlust. Was wir bey den Schmerzen
"des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitlei-
"den, aber von einer etwas andern Natur;
"denn die Quaal, die dieser Tugendhafte aus-
"zustehen hat, ist gegenwärtig, und überfällt
"ihn vor unsern Augen. Wenn aber Oedip sich
"entsetzt, indem das große Geheimniß sich plötz-
"lich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als
"sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfär-
"ben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona
"sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichen Othello
"so drohend mit ihr reden höret: was empfinden
"wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit-
"leidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitlei-
"diges Schrecken. Die Bewegungen sind ver-
"schieden, allein das Wesen der Empfindungen
"ist in allen diesen Fällen einerley. Denn, da
"jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden
"ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen:
"so müssen wir alle Arten von Leiden mit der ge-
"liebten Person theilen, welches man sehr nach-
"drücklich Mitleiden nennet. Warum sollten
"also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei-
"fersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar-
"ten von unangenehmen Empfindungen, sogar
"den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden
"entstehen können? -- Man sieht hieraus, wie
"gar ungeschickt der größte Theil der Kunstrich-

"ter

„glück für geſchehen, und bejammert ihren ge-
„habten Verluſt. Was wir bey den Schmerzen
„des Philoktets fühlen, iſt gleichfalls Mitlei-
„den, aber von einer etwas andern Natur;
„denn die Quaal, die dieſer Tugendhafte aus-
„zuſtehen hat, iſt gegenwärtig, und überfällt
„ihn vor unſern Augen. Wenn aber Oedip ſich
„entſetzt, indem das große Geheimniß ſich plötz-
„lich entwickelt; wenn Monime erſchrickt, als
„ſie den eiferſüchtigen Mithridates ſich entfär-
„ben ſieht; wenn die tugendhafte Desdemona
„ſich fürchtet, da ſie ihren ſonſt zärtlichen Othello
„ſo drohend mit ihr reden höret: was empfinden
„wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit-
„leidiges Entſetzen, mitleidige Furcht, mitlei-
„diges Schrecken. Die Bewegungen ſind ver-
„ſchieden, allein das Weſen der Empfindungen
„iſt in allen dieſen Fällen einerley. Denn, da
„jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden
„iſt, uns an die Stelle des Geliebten zu ſetzen:
„ſo müſſen wir alle Arten von Leiden mit der ge-
„liebten Perſon theilen, welches man ſehr nach-
„drücklich Mitleiden nennet. Warum ſollten
„alſo nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei-
„ferſucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar-
„ten von unangenehmen Empfindungen, ſogar
„den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden
„entſtehen können? — Man ſieht hieraus, wie
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[175/0181] „glück für geſchehen, und bejammert ihren ge- „habten Verluſt. Was wir bey den Schmerzen „des Philoktets fühlen, iſt gleichfalls Mitlei- „den, aber von einer etwas andern Natur; „denn die Quaal, die dieſer Tugendhafte aus- „zuſtehen hat, iſt gegenwärtig, und überfällt „ihn vor unſern Augen. Wenn aber Oedip ſich „entſetzt, indem das große Geheimniß ſich plötz- „lich entwickelt; wenn Monime erſchrickt, als „ſie den eiferſüchtigen Mithridates ſich entfär- „ben ſieht; wenn die tugendhafte Desdemona „ſich fürchtet, da ſie ihren ſonſt zärtlichen Othello „ſo drohend mit ihr reden höret: was empfinden „wir da? Jmmer noch Mitleiden! Aber mit- „leidiges Entſetzen, mitleidige Furcht, mitlei- „diges Schrecken. Die Bewegungen ſind ver- „ſchieden, allein das Weſen der Empfindungen „iſt in allen dieſen Fällen einerley. Denn, da „jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden „iſt, uns an die Stelle des Geliebten zu ſetzen: „ſo müſſen wir alle Arten von Leiden mit der ge- „liebten Perſon theilen, welches man ſehr nach- „drücklich Mitleiden nennet. Warum ſollten „alſo nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Ei- „ferſucht, Rachbegier, und überhaupt alle Ar- „ten von unangenehmen Empfindungen, ſogar „den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden „entſtehen können? — Man ſieht hieraus, wie „gar ungeſchickt der größte Theil der Kunſtrich- „ter

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/181>, abgerufen am 28.04.2024.