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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Braunschweig, 1840.

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Ursache der Gährung, Fäulniß und Verwesung.
Chlor noch mit Stickstoff verbinden, und die Berührung ir-
gend einer festen Substanz reicht bei dem Jodstickstoff und dem
Silberoxid-Ammoniak hin, um ein Zerfallen mit Explosion zu
Wege zu bringen.

Niemand hat je daran gedacht, die Ursache der Zerlegung
dieser Körper einer besonderen von der chemischen Verwandt-
schaft verschiedenen Kraft zuzuschreiben, welche thätig wird z. B.
durch Berührung mit dem Barte einer Feder und die in Folge
ihres Auftretens die Zersetzung bedingt; man betrachtete von
jeher diese Körper als chemische Verbindungen der schwächsten
Art, in denen also die Bestandtheile in einem Zustande der
Spannung sich befinden, die in jeder auch der geringsten Stö-
rung die chemische Verwandtschaft überwiegt. Diese Verbin-
dungen bestehen nur durch die Kraft der Trägheit (vis inertiae),
ein jedes in Bewegung setzen, die Reibung, ein Stoß, reichen hin,
um das statische Moment der Anziehung der Bestandtheile, d. h.
das Bestehen in einer bestimmten Form, aufzuheben.

Das Wasserstoffhyperoxid gehört zu dieser Klasse von Kör-
pern; es zerlegt sich mit allen Substanzen, die ihm den Sauer-
stoff entziehen, es zerlegt sich selbst augenblicklich durch Berüh-
rung mit vielen Körpern, wie mit Platin und metallischem
Silber, welche keine Verbindung hierbei eingehen, und in die-
ser Beziehung wird seine Zersetzung offenbar durch die nem-
liche Ursache bedingt, welche das Zerfallen des Jodstickstoffs
und Knallsilbers veranlaßt. Bei dem Wasserstoffhyperoxide
hat man, merkwürdiger Weise, die Ursache der plötzlichen
Trennung seiner Bestandtheile als eine, von den gewöhn-
lichen Ursachen verschiedene angesehen, und sie einer neuen
Kraft zugeschrieben, der man den Namen katalytische
Kraft gegeben hat; man hat dabei aber nicht erwogen, daß
die Wirkung des Platins und Silbers nur eine beschleu-

Urſache der Gährung, Fäulniß und Verweſung.
Chlor noch mit Stickſtoff verbinden, und die Berührung ir-
gend einer feſten Subſtanz reicht bei dem Jodſtickſtoff und dem
Silberoxid-Ammoniak hin, um ein Zerfallen mit Exploſion zu
Wege zu bringen.

Niemand hat je daran gedacht, die Urſache der Zerlegung
dieſer Körper einer beſonderen von der chemiſchen Verwandt-
ſchaft verſchiedenen Kraft zuzuſchreiben, welche thätig wird z. B.
durch Berührung mit dem Barte einer Feder und die in Folge
ihres Auftretens die Zerſetzung bedingt; man betrachtete von
jeher dieſe Körper als chemiſche Verbindungen der ſchwächſten
Art, in denen alſo die Beſtandtheile in einem Zuſtande der
Spannung ſich befinden, die in jeder auch der geringſten Stö-
rung die chemiſche Verwandtſchaft überwiegt. Dieſe Verbin-
dungen beſtehen nur durch die Kraft der Trägheit (vis inertiae),
ein jedes in Bewegung ſetzen, die Reibung, ein Stoß, reichen hin,
um das ſtatiſche Moment der Anziehung der Beſtandtheile, d. h.
das Beſtehen in einer beſtimmten Form, aufzuheben.

Das Waſſerſtoffhyperoxid gehört zu dieſer Klaſſe von Kör-
pern; es zerlegt ſich mit allen Subſtanzen, die ihm den Sauer-
ſtoff entziehen, es zerlegt ſich ſelbſt augenblicklich durch Berüh-
rung mit vielen Körpern, wie mit Platin und metalliſchem
Silber, welche keine Verbindung hierbei eingehen, und in die-
ſer Beziehung wird ſeine Zerſetzung offenbar durch die nem-
liche Urſache bedingt, welche das Zerfallen des Jodſtickſtoffs
und Knallſilbers veranlaßt. Bei dem Waſſerſtoffhyperoxide
hat man, merkwürdiger Weiſe, die Urſache der plötzlichen
Trennung ſeiner Beſtandtheile als eine, von den gewöhn-
lichen Urſachen verſchiedene angeſehen, und ſie einer neuen
Kraft zugeſchrieben, der man den Namen katalytiſche
Kraft gegeben hat; man hat dabei aber nicht erwogen, daß
die Wirkung des Platins und Silbers nur eine beſchleu-

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[204/0222] Urſache der Gährung, Fäulniß und Verweſung. Chlor noch mit Stickſtoff verbinden, und die Berührung ir- gend einer feſten Subſtanz reicht bei dem Jodſtickſtoff und dem Silberoxid-Ammoniak hin, um ein Zerfallen mit Exploſion zu Wege zu bringen. Niemand hat je daran gedacht, die Urſache der Zerlegung dieſer Körper einer beſonderen von der chemiſchen Verwandt- ſchaft verſchiedenen Kraft zuzuſchreiben, welche thätig wird z. B. durch Berührung mit dem Barte einer Feder und die in Folge ihres Auftretens die Zerſetzung bedingt; man betrachtete von jeher dieſe Körper als chemiſche Verbindungen der ſchwächſten Art, in denen alſo die Beſtandtheile in einem Zuſtande der Spannung ſich befinden, die in jeder auch der geringſten Stö- rung die chemiſche Verwandtſchaft überwiegt. Dieſe Verbin- dungen beſtehen nur durch die Kraft der Trägheit (vis inertiae), ein jedes in Bewegung ſetzen, die Reibung, ein Stoß, reichen hin, um das ſtatiſche Moment der Anziehung der Beſtandtheile, d. h. das Beſtehen in einer beſtimmten Form, aufzuheben. Das Waſſerſtoffhyperoxid gehört zu dieſer Klaſſe von Kör- pern; es zerlegt ſich mit allen Subſtanzen, die ihm den Sauer- ſtoff entziehen, es zerlegt ſich ſelbſt augenblicklich durch Berüh- rung mit vielen Körpern, wie mit Platin und metalliſchem Silber, welche keine Verbindung hierbei eingehen, und in die- ſer Beziehung wird ſeine Zerſetzung offenbar durch die nem- liche Urſache bedingt, welche das Zerfallen des Jodſtickſtoffs und Knallſilbers veranlaßt. Bei dem Waſſerſtoffhyperoxide hat man, merkwürdiger Weiſe, die Urſache der plötzlichen Trennung ſeiner Beſtandtheile als eine, von den gewöhn- lichen Urſachen verſchiedene angeſehen, und ſie einer neuen Kraft zugeſchrieben, der man den Namen katalytiſche Kraft gegeben hat; man hat dabei aber nicht erwogen, daß die Wirkung des Platins und Silbers nur eine beſchleu-

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Zitationshilfe: Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Braunschweig, 1840, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_agricultur_1840/222>, abgerufen am 29.04.2024.