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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

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sechs zu Abend auf seinem Stübchen; dazu brauchte
er eine Viertelstunde, dann strich er mit leiser Hand
über das alte Sopha und bewegte sich drei andere
Viertelstunden, war es Sommerszeit, im Gärtchen.
Mit dem ersten Viertelschlage von ein und sieben Uhr
klinkte er die Staketenthüre wieder hinter sich zu. Am
Sonntag ist's anders; da sitzt er eine ganze Stunde
lang in der Laube und sieht nach dem Thurmdache von
Sankt Georg hinauf. Uns bleibt wenig nachzuholen,
und der Leser kennt Alles, was dann durch Herrn Net¬
tenmair's Seele geht, was er abliest vom Thurmdache
von Sankt Georg. Auch wem das bejahrte, aber
immer noch schöne Frauengesicht gehört, das zuweilen
durch das Staket und das Bohnengelände daran, zu
dem Sitzenden herüberlauscht, das weiß der Leser nun.
Die jetzt weiße Locke über der Stirn, die sich noch immer
gern freimacht, war noch dunkelbraun und voll, und
hing auf eine faltenlose Stirn herab, die Wangen
darunter schwellte noch Jugendkraft, die Lippen blühten
noch und die blauen Augen glänzten, als sie dem
Manne entgegeneilte, der eben die Stadt gerettet. Er
küßte sie leise auf die Stirn und nannte sie mit dem
Namen "Schwester". Sie verstand, was er meinte.
Schon damals sah sie mit der Ergebung, ja Andacht
zu dem Manne hinauf, mit der sie jetzt sein Sinnen
belauscht, aber noch ein ander Gefühl trat auf ihr
durchsichtiges Antlitz.

ſechs zu Abend auf ſeinem Stübchen; dazu brauchte
er eine Viertelſtunde, dann ſtrich er mit leiſer Hand
über das alte Sopha und bewegte ſich drei andere
Viertelſtunden, war es Sommerszeit, im Gärtchen.
Mit dem erſten Viertelſchlage von ein und ſieben Uhr
klinkte er die Staketenthüre wieder hinter ſich zu. Am
Sonntag iſt's anders; da ſitzt er eine ganze Stunde
lang in der Laube und ſieht nach dem Thurmdache von
Sankt Georg hinauf. Uns bleibt wenig nachzuholen,
und der Leſer kennt Alles, was dann durch Herrn Net¬
tenmair's Seele geht, was er ablieſt vom Thurmdache
von Sankt Georg. Auch wem das bejahrte, aber
immer noch ſchöne Frauengeſicht gehört, das zuweilen
durch das Staket und das Bohnengelände daran, zu
dem Sitzenden herüberlauſcht, das weiß der Leſer nun.
Die jetzt weiße Locke über der Stirn, die ſich noch immer
gern freimacht, war noch dunkelbraun und voll, und
hing auf eine faltenloſe Stirn herab, die Wangen
darunter ſchwellte noch Jugendkraft, die Lippen blühten
noch und die blauen Augen glänzten, als ſie dem
Manne entgegeneilte, der eben die Stadt gerettet. Er
küßte ſie leiſe auf die Stirn und nannte ſie mit dem
Namen „Schweſter“. Sie verſtand, was er meinte.
Schon damals ſah ſie mit der Ergebung, ja Andacht
zu dem Manne hinauf, mit der ſie jetzt ſein Sinnen
belauſcht, aber noch ein ander Gefühl trat auf ihr
durchſichtiges Antlitz.

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[312/0321] ſechs zu Abend auf ſeinem Stübchen; dazu brauchte er eine Viertelſtunde, dann ſtrich er mit leiſer Hand über das alte Sopha und bewegte ſich drei andere Viertelſtunden, war es Sommerszeit, im Gärtchen. Mit dem erſten Viertelſchlage von ein und ſieben Uhr klinkte er die Staketenthüre wieder hinter ſich zu. Am Sonntag iſt's anders; da ſitzt er eine ganze Stunde lang in der Laube und ſieht nach dem Thurmdache von Sankt Georg hinauf. Uns bleibt wenig nachzuholen, und der Leſer kennt Alles, was dann durch Herrn Net¬ tenmair's Seele geht, was er ablieſt vom Thurmdache von Sankt Georg. Auch wem das bejahrte, aber immer noch ſchöne Frauengeſicht gehört, das zuweilen durch das Staket und das Bohnengelände daran, zu dem Sitzenden herüberlauſcht, das weiß der Leſer nun. Die jetzt weiße Locke über der Stirn, die ſich noch immer gern freimacht, war noch dunkelbraun und voll, und hing auf eine faltenloſe Stirn herab, die Wangen darunter ſchwellte noch Jugendkraft, die Lippen blühten noch und die blauen Augen glänzten, als ſie dem Manne entgegeneilte, der eben die Stadt gerettet. Er küßte ſie leiſe auf die Stirn und nannte ſie mit dem Namen „Schweſter“. Sie verſtand, was er meinte. Schon damals ſah ſie mit der Ergebung, ja Andacht zu dem Manne hinauf, mit der ſie jetzt ſein Sinnen belauſcht, aber noch ein ander Gefühl trat auf ihr durchſichtiges Antlitz.

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Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/321>, abgerufen am 30.04.2024.