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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Die formelle Entwickelung der Mechanik.
in ein System von Spukgestalten aufzulösen. Die
Richtung, in welcher die Aufklärung durch eine lange
und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann na-
türlich nur vermuthet werden. Das Resultat anti-
cipiren,
oder es gar in die gegenwärtigen wissen-
schaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hiesse
Mythologie statt Wissenschaft treiben.

Die Naturwissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch
auf, eine fertige Weltanschauung zu sein, wohl aber mit
dem Bewusstsein, an einer künftigen Weltanschauung
zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Naturforschers
besteht eben darin, eine unvollendete Weltanschauung
zu ertragen, und einer scheinbar abgeschlossenen, aber
unzureichenden vorzuziehen. Die religiösen Ansichten
bleiben jedes Menschen eigenste Privatsache, solange
er mit denselben nicht aufdringlich wird, und sie nicht
auf Dinge überträgt, die vor ein anderes Forum ge-
hören. Selbst die Naturforscher verhalten sich, je nach
der Weite ihres Blickes und je nach ihrer Werthschätzung
der Consequenz, in dieser Richtung höchst verschieden.

Die Naturwissenschaft fragt gar nicht nach dem, was
einer exacten Erforschung nicht zugänglich, oder noch
nicht zugänglich ist. Sollten aber einmal Gebiete der
exacten Forschung erreichbar werden, die es jetzt noch
nicht sind, nun dann wird wol kein wohlorganisirter
Mensch, keiner, der es mit sich und andern ehrlich
meint, Anstand nehmen, die Meinung über ein Ding
mit dem Wissen von einem Ding zu vertauschen.

Wenn wir die heutige Gesellschaft oft schwanken
sehen, wenn sie ihren Standpunkt auch in derselben
Frage je nach der Stimmung und Lebenslage wechselt,
wie die Register einer Orgel, wenn dies nicht ohne
tiefen Gemüthsschmerz abgehen kann, so ist dies eine
natürliche nothwendige Folge der Halbheit und des
Uebergangszustandes ihrer Ansichten. Eine zureichende
Weltanschauung kann uns nicht geschenkt werden, wir
müssen sie erwerben! Nur dann aber, wenn man dem
Verstande und der Erfahrung freien Lauf lässt, wo sie

Die formelle Entwickelung der Mechanik.
in ein System von Spukgestalten aufzulösen. Die
Richtung, in welcher die Aufklärung durch eine lange
und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann na-
türlich nur vermuthet werden. Das Resultat anti-
cipiren,
oder es gar in die gegenwärtigen wissen-
schaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hiesse
Mythologie statt Wissenschaft treiben.

Die Naturwissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch
auf, eine fertige Weltanschauung zu sein, wohl aber mit
dem Bewusstsein, an einer künftigen Weltanschauung
zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Naturforschers
besteht eben darin, eine unvollendete Weltanschauung
zu ertragen, und einer scheinbar abgeschlossenen, aber
unzureichenden vorzuziehen. Die religiösen Ansichten
bleiben jedes Menschen eigenste Privatsache, solange
er mit denselben nicht aufdringlich wird, und sie nicht
auf Dinge überträgt, die vor ein anderes Forum ge-
hören. Selbst die Naturforscher verhalten sich, je nach
der Weite ihres Blickes und je nach ihrer Werthschätzung
der Consequenz, in dieser Richtung höchst verschieden.

Die Naturwissenschaft fragt gar nicht nach dem, was
einer exacten Erforschung nicht zugänglich, oder noch
nicht zugänglich ist. Sollten aber einmal Gebiete der
exacten Forschung erreichbar werden, die es jetzt noch
nicht sind, nun dann wird wol kein wohlorganisirter
Mensch, keiner, der es mit sich und andern ehrlich
meint, Anstand nehmen, die Meinung über ein Ding
mit dem Wissen von einem Ding zu vertauschen.

Wenn wir die heutige Gesellschaft oft schwanken
sehen, wenn sie ihren Standpunkt auch in derselben
Frage je nach der Stimmung und Lebenslage wechselt,
wie die Register einer Orgel, wenn dies nicht ohne
tiefen Gemüthsschmerz abgehen kann, so ist dies eine
natürliche nothwendige Folge der Halbheit und des
Uebergangszustandes ihrer Ansichten. Eine zureichende
Weltanschauung kann uns nicht geschenkt werden, wir
müssen sie erwerben! Nur dann aber, wenn man dem
Verstande und der Erfahrung freien Lauf lässt, wo sie

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[437/0449] Die formelle Entwickelung der Mechanik. in ein System von Spukgestalten aufzulösen. Die Richtung, in welcher die Aufklärung durch eine lange und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann na- türlich nur vermuthet werden. Das Resultat anti- cipiren, oder es gar in die gegenwärtigen wissen- schaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hiesse Mythologie statt Wissenschaft treiben. Die Naturwissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine fertige Weltanschauung zu sein, wohl aber mit dem Bewusstsein, an einer künftigen Weltanschauung zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Naturforschers besteht eben darin, eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen, und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen. Die religiösen Ansichten bleiben jedes Menschen eigenste Privatsache, solange er mit denselben nicht aufdringlich wird, und sie nicht auf Dinge überträgt, die vor ein anderes Forum ge- hören. Selbst die Naturforscher verhalten sich, je nach der Weite ihres Blickes und je nach ihrer Werthschätzung der Consequenz, in dieser Richtung höchst verschieden. Die Naturwissenschaft fragt gar nicht nach dem, was einer exacten Erforschung nicht zugänglich, oder noch nicht zugänglich ist. Sollten aber einmal Gebiete der exacten Forschung erreichbar werden, die es jetzt noch nicht sind, nun dann wird wol kein wohlorganisirter Mensch, keiner, der es mit sich und andern ehrlich meint, Anstand nehmen, die Meinung über ein Ding mit dem Wissen von einem Ding zu vertauschen. Wenn wir die heutige Gesellschaft oft schwanken sehen, wenn sie ihren Standpunkt auch in derselben Frage je nach der Stimmung und Lebenslage wechselt, wie die Register einer Orgel, wenn dies nicht ohne tiefen Gemüthsschmerz abgehen kann, so ist dies eine natürliche nothwendige Folge der Halbheit und des Uebergangszustandes ihrer Ansichten. Eine zureichende Weltanschauung kann uns nicht geschenkt werden, wir müssen sie erwerben! Nur dann aber, wenn man dem Verstande und der Erfahrung freien Lauf lässt, wo sie

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/449>, abgerufen am 08.05.2024.