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Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796.

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Zweytes Buch. Drittes Hauptstück.
der Menschlichkeit, des Wohlstandes, der Höflichkeit ver-
bunden hielt, und die es daher zu unternehmen oder zu
unterlassen das vollkommene Recht hatte, geben nicht nur
dann wenn sie einmahl, sondern selbst wenn sie Jahrhun-
derte lang gleichförmig und noch so oft unternommen wor-
den, nie einen Beweis, daß dieses Volk sich gegen ein an-
deres vollkommen verpflichten wolle, in Zukunft seine Hand-
lungen auf gleiche Weise einzurichten, und können ihm nie
das Recht nehmen von seiner bisherigen Handelsweise, sobald
es dies für gut findet, abzuweichen, ohne einem andren davon
Rechenschaft zu geben.

Nur eine natürliche Vermuthung kann aus der bis-
her beobachteten Art zu handeln erwachsen, daß dieses Volk
in künftigen Fällen unter ähnlichen Umständen eben so wie
bisher sich betragen werde, so lange es das Gegentheil nicht
erkläret hat.

Eine solche Vermuthung kann zuweilen aus einer
einzigen Handlung entstehn, sie wird aber bestärkt durch die
Länge der Zeit und durch die Menge der Fälle in welchen
eine gleichförmige Handelsweise beobachtet worden, und sich
zum Herkommen oder zur Gewohnheit gebildet hat. Ein
solches Herkommen gründet sich daher nicht auf eine still-
schweigende Einwilligung, sondern auf den aus Handlungen
gemuthmaaßten Willen eines Volks.

Aber eben diese gegründete Vermuthung die ein Volk
bey andren erregt hat, macht es ihm zu einer Pflicht, wenn
es das bisherige Herkommen abschaffen will, den übrigen
Völkern welche durch diese Muthmaaßung in Schaden ge-
setzt werden können, in Zeiten seinen veränderten Willen
anzuzeigen. Und obgleich diese Pflicht an sich betrachtet nur
unvollkommen ist, so geben doch die Freundschafts- und Han-
delsbündnisse einen neuen Grund zu Beobachtung derselben
an die Hand, und sie wird überdies von den Europäischen
Völkern nicht nur anerkannt (wenn gleich nicht als eine
Zwangspflicht) sondern auch standhaft beobachtet.


§. 60.

Zweytes Buch. Drittes Hauptſtuͤck.
der Menſchlichkeit, des Wohlſtandes, der Hoͤflichkeit ver-
bunden hielt, und die es daher zu unternehmen oder zu
unterlaſſen das vollkommene Recht hatte, geben nicht nur
dann wenn ſie einmahl, ſondern ſelbſt wenn ſie Jahrhun-
derte lang gleichfoͤrmig und noch ſo oft unternommen wor-
den, nie einen Beweis, daß dieſes Volk ſich gegen ein an-
deres vollkommen verpflichten wolle, in Zukunft ſeine Hand-
lungen auf gleiche Weiſe einzurichten, und koͤnnen ihm nie
das Recht nehmen von ſeiner bisherigen Handelsweiſe, ſobald
es dies fuͤr gut findet, abzuweichen, ohne einem andren davon
Rechenſchaft zu geben.

Nur eine natuͤrliche Vermuthung kann aus der bis-
her beobachteten Art zu handeln erwachſen, daß dieſes Volk
in kuͤnftigen Faͤllen unter aͤhnlichen Umſtaͤnden eben ſo wie
bisher ſich betragen werde, ſo lange es das Gegentheil nicht
erklaͤret hat.

Eine ſolche Vermuthung kann zuweilen aus einer
einzigen Handlung entſtehn, ſie wird aber beſtaͤrkt durch die
Laͤnge der Zeit und durch die Menge der Faͤlle in welchen
eine gleichfoͤrmige Handelsweiſe beobachtet worden, und ſich
zum Herkommen oder zur Gewohnheit gebildet hat. Ein
ſolches Herkommen gruͤndet ſich daher nicht auf eine ſtill-
ſchweigende Einwilligung, ſondern auf den aus Handlungen
gemuthmaaßten Willen eines Volks.

Aber eben dieſe gegruͤndete Vermuthung die ein Volk
bey andren erregt hat, macht es ihm zu einer Pflicht, wenn
es das bisherige Herkommen abſchaffen will, den uͤbrigen
Voͤlkern welche durch dieſe Muthmaaßung in Schaden ge-
ſetzt werden koͤnnen, in Zeiten ſeinen veraͤnderten Willen
anzuzeigen. Und obgleich dieſe Pflicht an ſich betrachtet nur
unvollkommen iſt, ſo geben doch die Freundſchafts- und Han-
delsbuͤndniſſe einen neuen Grund zu Beobachtung derſelben
an die Hand, und ſie wird uͤberdies von den Europaͤiſchen
Voͤlkern nicht nur anerkannt (wenn gleich nicht als eine
Zwangspflicht) ſondern auch ſtandhaft beobachtet.


§. 60.
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[72/0100] Zweytes Buch. Drittes Hauptſtuͤck. der Menſchlichkeit, des Wohlſtandes, der Hoͤflichkeit ver- bunden hielt, und die es daher zu unternehmen oder zu unterlaſſen das vollkommene Recht hatte, geben nicht nur dann wenn ſie einmahl, ſondern ſelbſt wenn ſie Jahrhun- derte lang gleichfoͤrmig und noch ſo oft unternommen wor- den, nie einen Beweis, daß dieſes Volk ſich gegen ein an- deres vollkommen verpflichten wolle, in Zukunft ſeine Hand- lungen auf gleiche Weiſe einzurichten, und koͤnnen ihm nie das Recht nehmen von ſeiner bisherigen Handelsweiſe, ſobald es dies fuͤr gut findet, abzuweichen, ohne einem andren davon Rechenſchaft zu geben. Nur eine natuͤrliche Vermuthung kann aus der bis- her beobachteten Art zu handeln erwachſen, daß dieſes Volk in kuͤnftigen Faͤllen unter aͤhnlichen Umſtaͤnden eben ſo wie bisher ſich betragen werde, ſo lange es das Gegentheil nicht erklaͤret hat. Eine ſolche Vermuthung kann zuweilen aus einer einzigen Handlung entſtehn, ſie wird aber beſtaͤrkt durch die Laͤnge der Zeit und durch die Menge der Faͤlle in welchen eine gleichfoͤrmige Handelsweiſe beobachtet worden, und ſich zum Herkommen oder zur Gewohnheit gebildet hat. Ein ſolches Herkommen gruͤndet ſich daher nicht auf eine ſtill- ſchweigende Einwilligung, ſondern auf den aus Handlungen gemuthmaaßten Willen eines Volks. Aber eben dieſe gegruͤndete Vermuthung die ein Volk bey andren erregt hat, macht es ihm zu einer Pflicht, wenn es das bisherige Herkommen abſchaffen will, den uͤbrigen Voͤlkern welche durch dieſe Muthmaaßung in Schaden ge- ſetzt werden koͤnnen, in Zeiten ſeinen veraͤnderten Willen anzuzeigen. Und obgleich dieſe Pflicht an ſich betrachtet nur unvollkommen iſt, ſo geben doch die Freundſchafts- und Han- delsbuͤndniſſe einen neuen Grund zu Beobachtung derſelben an die Hand, und ſie wird uͤberdies von den Europaͤiſchen Voͤlkern nicht nur anerkannt (wenn gleich nicht als eine Zwangspflicht) ſondern auch ſtandhaft beobachtet. §. 60.

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Zitationshilfe: Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/100>, abgerufen am 07.05.2024.