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Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796.

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Rechte d. Völker in Ansehung d. Staatsverf. überh.

Hat endlich der Staat die Unabhängigkeit der sich
loßreissenden Provinz ausdrücklich g) oder stillschweigend an-
erkannt, oder [d]er Prätendent auf den Thron Verzicht ge-
leistet h), so können dritte Mächte sich nicht weigern, den
neuen Staat oder Regenten anzuerkennen, und es bedarf
keiner förmlichen Anerkenntniß von ihrer Seite i).

a) Z. B. die Schweiz von Oesterreich und dem Reich, die Nie-
derländer seit 1581, Portugal seit 1641 von Spanien, die
brittischen Colonien in America seit 1776 von Großbritannien,
die österreichischen Niederlande 1790 von Oesterreich.
b) Ueber ältere Beyspiele s. C. G. Heyne progr. reges a suis fugati
externa ope in regnum reducti
. Gott. 1791. fol.
Die mittlere Ge-
schichte liefert viele Beyspiele solcher Thronentsetzungen, zum
Theil ohne Einmischung fremder Mächte. Aus der neueren
Geschichte ist die Ausschließung Jacobs II. und seiner catholi-
schen Descendenten und Agnaten von dem brittischen Thron 1688
in Ansehung des Betragens auswärtiger Mächte, insonderheit
Frankreichs, Spanien, Venedigs, des Pabsts eines der lehrreich-
sten für diese Frage.
c) Beyspiele einer gewaltsamen Staatsumwälzung liefern Vene-
dig 1298. England 1649. Frankreich seit 1792.
d) Hieher gehören insonderheit, in Ansehung des ersten Falles, die
gegenseitigen Garantien der Besitzungen welche in neueren Zei-
ten so häufig geworden; in Ansehung des zweyten, die persönli-
chen Verträge, wie die Bündnisse Frankreichs mit Jacob II, das
bourbonsche Familien-Pact von 1761, auch einige Garantien
der Erbfolge wie die der Brittischen im Utrechter, der Oester-
reichischen
im Aachener Frieden; in Ansehung des dritten die
Garantien der Constitution.
e) Was dieß für Fälle seyn, ist aus den Grundsätzen des allgemei-
nen und positiven Staatsrechts zu beurtheilen; oft sind die voll-
kommenen Rechte gegen den Regenten noch durch die Pflichten
der Nation gegen sich selbst beschränkt. Die Erörterung dieser
Frage liegt außerhalb der Grenzen unserer Wissenschaft.
f) Achenwall de iure in aemulum regni vulgo: Praetendentem. Marb.
1747. 4. v. Steck von Erkennung der Unabhängigkeit einer
Nation in dessen Versuche 1783 n. 8. S. 49. u. f. Günther
europ. Völkerrecht
Th. I. S. 78. u. f. Sehr natürlich kommt
auch hier manches auf die Umstände und auf den Grad der
Rechte d. Voͤlker in Anſehung d. Staatsverf. uͤberh.

Hat endlich der Staat die Unabhaͤngigkeit der ſich
loßreiſſenden Provinz ausdruͤcklich g) oder ſtillſchweigend an-
erkannt, oder [d]er Praͤtendent auf den Thron Verzicht ge-
leiſtet h), ſo koͤnnen dritte Maͤchte ſich nicht weigern, den
neuen Staat oder Regenten anzuerkennen, und es bedarf
keiner foͤrmlichen Anerkenntniß von ihrer Seite i).

a) Z. B. die Schweiz von Oeſterreich und dem Reich, die Nie-
derlaͤnder ſeit 1581, Portugal ſeit 1641 von Spanien, die
brittiſchen Colonien in America ſeit 1776 von Großbritannien,
die oͤſterreichiſchen Niederlande 1790 von Oeſterreich.
b) Ueber aͤltere Beyſpiele ſ. C. G. Heyne progr. reges a ſuis fugati
externa ope in regnum reducti
. Gott. 1791. fol.
Die mittlere Ge-
ſchichte liefert viele Beyſpiele ſolcher Thronentſetzungen, zum
Theil ohne Einmiſchung fremder Maͤchte. Aus der neueren
Geſchichte iſt die Ausſchließung Jacobs II. und ſeiner catholi-
ſchen Deſcendenten und Agnaten von dem brittiſchen Thron 1688
in Anſehung des Betragens auswaͤrtiger Maͤchte, inſonderheit
Frankreichs, Spanien, Venedigs, des Pabſts eines der lehrreich-
ſten fuͤr dieſe Frage.
c) Beyſpiele einer gewaltſamen Staatsumwaͤlzung liefern Vene-
dig 1298. England 1649. Frankreich ſeit 1792.
d) Hieher gehoͤren inſonderheit, in Anſehung des erſten Falles, die
gegenſeitigen Garantien der Beſitzungen welche in neueren Zei-
ten ſo haͤufig geworden; in Anſehung des zweyten, die perſoͤnli-
chen Vertraͤge, wie die Buͤndniſſe Frankreichs mit Jacob II, das
bourbonſche Familien-Pact von 1761, auch einige Garantien
der Erbfolge wie die der Brittiſchen im Utrechter, der Oeſter-
reichiſchen
im Aachener Frieden; in Anſehung des dritten die
Garantien der Conſtitution.
e) Was dieß fuͤr Faͤlle ſeyn, iſt aus den Grundſaͤtzen des allgemei-
nen und poſitiven Staatsrechts zu beurtheilen; oft ſind die voll-
kommenen Rechte gegen den Regenten noch durch die Pflichten
der Nation gegen ſich ſelbſt beſchraͤnkt. Die Eroͤrterung dieſer
Frage liegt außerhalb der Grenzen unſerer Wiſſenſchaft.
f) Achenwall de iure in aemulum regni vulgo: Praetendentem. Marb.
1747. 4. v. Steck von Erkennung der Unabhaͤngigkeit einer
Nation in deſſen Verſuche 1783 n. 8. S. 49. u. f. Guͤnther
europ. Voͤlkerrecht
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[91/0119] Rechte d. Voͤlker in Anſehung d. Staatsverf. uͤberh. Hat endlich der Staat die Unabhaͤngigkeit der ſich loßreiſſenden Provinz ausdruͤcklich g) oder ſtillſchweigend an- erkannt, oder der Praͤtendent auf den Thron Verzicht ge- leiſtet h), ſo koͤnnen dritte Maͤchte ſich nicht weigern, den neuen Staat oder Regenten anzuerkennen, und es bedarf keiner foͤrmlichen Anerkenntniß von ihrer Seite i). a⁾ Z. B. die Schweiz von Oeſterreich und dem Reich, die Nie- derlaͤnder ſeit 1581, Portugal ſeit 1641 von Spanien, die brittiſchen Colonien in America ſeit 1776 von Großbritannien, die oͤſterreichiſchen Niederlande 1790 von Oeſterreich. b⁾ Ueber aͤltere Beyſpiele ſ. C. G. Heyne progr. reges a ſuis fugati externa ope in regnum reducti. Gott. 1791. fol. Die mittlere Ge- ſchichte liefert viele Beyſpiele ſolcher Thronentſetzungen, zum Theil ohne Einmiſchung fremder Maͤchte. Aus der neueren Geſchichte iſt die Ausſchließung Jacobs II. und ſeiner catholi- ſchen Deſcendenten und Agnaten von dem brittiſchen Thron 1688 in Anſehung des Betragens auswaͤrtiger Maͤchte, inſonderheit Frankreichs, Spanien, Venedigs, des Pabſts eines der lehrreich- ſten fuͤr dieſe Frage. c⁾ Beyſpiele einer gewaltſamen Staatsumwaͤlzung liefern Vene- dig 1298. England 1649. Frankreich ſeit 1792. d⁾ Hieher gehoͤren inſonderheit, in Anſehung des erſten Falles, die gegenſeitigen Garantien der Beſitzungen welche in neueren Zei- ten ſo haͤufig geworden; in Anſehung des zweyten, die perſoͤnli- chen Vertraͤge, wie die Buͤndniſſe Frankreichs mit Jacob II, das bourbonſche Familien-Pact von 1761, auch einige Garantien der Erbfolge wie die der Brittiſchen im Utrechter, der Oeſter- reichiſchen im Aachener Frieden; in Anſehung des dritten die Garantien der Conſtitution. e⁾ Was dieß fuͤr Faͤlle ſeyn, iſt aus den Grundſaͤtzen des allgemei- nen und poſitiven Staatsrechts zu beurtheilen; oft ſind die voll- kommenen Rechte gegen den Regenten noch durch die Pflichten der Nation gegen ſich ſelbſt beſchraͤnkt. Die Eroͤrterung dieſer Frage liegt außerhalb der Grenzen unſerer Wiſſenſchaft. f⁾ Achenwall de iure in aemulum regni vulgo: Praetendentem. Marb. 1747. 4. v. Steck von Erkennung der Unabhaͤngigkeit einer Nation in deſſen Verſuche 1783 n. 8. S. 49. u. f. Guͤnther europ. Voͤlkerrecht Th. I. S. 78. u. f. Sehr natuͤrlich kommt auch hier manches auf die Umſtaͤnde und auf den Grad der Hoffnung

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Zitationshilfe: Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/119>, abgerufen am 27.04.2024.