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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Je größer und würdiger der Held, desto gewaltiger
das Schicksal, desto erhabener der Kampf, desto edler
die Dichtung. Der Held in seinem Widerstande war
der Maaßstab des ganzen Gedichts. So hat auch
Schiller das Trauerspiel aufgefaßt, und es bei den
Deutschen zu einer Lieblingsdichtung gemacht. Was
ist aber daraus geworden, als kränkliche Originali¬
tätssucht und moralische Impotenz sich auf Schiller's
Lorbeern weich zu betten gedachten?

Die Helden der neuen Schicksalstragödie sind wil¬
lenlos, ohne Werth, ohne Würde. Sie sind von
der Geburt an in der Gewalt der dunkeln Macht.
Sie begehn ihre schauderhaften Unthaten nicht aus
freiem Willen, sondern aus Vorherbestimmung. Ein
Fluch treibt sie, von einer Ahnfrau ihnen angeboren,
oder angehext von einer Zigeunerin, und ihre Sünde,
wie ihre Strafe ist durch die Sterne selbst mit einer
unabwendbaren Stunde ihres Lebens unzertrennlich
verbunden. Der arme Sünder muß freveln, weil
heute gerade der 24ste oder 29ste Februar ist. Nicht
aus Lust, nicht aus eignem Willen sündigt er; ist
eine Lust in ihm, so ist sie ihm eben nur angehext,
angeflucht. Ja der Teufel nimmt sich nicht einmal
die Mühe, ihn zu verführen, er muß ja sündigen,
wenn die Mitternachtglocke schlägt, und der Dolch
ist der Uhrzeiger, und das Herz, das er durchboh¬
ren soll, ist die verhängnißvolle Zahl; der Zeiger
rückt und das Schreckliche geschieht. Die Ansicht der
Hexenprocesse wird geistreich, wenn man sie mit die¬

Je groͤßer und wuͤrdiger der Held, deſto gewaltiger
das Schickſal, deſto erhabener der Kampf, deſto edler
die Dichtung. Der Held in ſeinem Widerſtande war
der Maaßſtab des ganzen Gedichts. So hat auch
Schiller das Trauerſpiel aufgefaßt, und es bei den
Deutſchen zu einer Lieblingsdichtung gemacht. Was
iſt aber daraus geworden, als kraͤnkliche Originali¬
taͤtsſucht und moraliſche Impotenz ſich auf Schiller's
Lorbeern weich zu betten gedachten?

Die Helden der neuen Schickſalstragoͤdie ſind wil¬
lenlos, ohne Werth, ohne Wuͤrde. Sie ſind von
der Geburt an in der Gewalt der dunkeln Macht.
Sie begehn ihre ſchauderhaften Unthaten nicht aus
freiem Willen, ſondern aus Vorherbeſtimmung. Ein
Fluch treibt ſie, von einer Ahnfrau ihnen angeboren,
oder angehext von einer Zigeunerin, und ihre Suͤnde,
wie ihre Strafe iſt durch die Sterne ſelbſt mit einer
unabwendbaren Stunde ihres Lebens unzertrennlich
verbunden. Der arme Suͤnder muß freveln, weil
heute gerade der 24ſte oder 29ſte Februar iſt. Nicht
aus Luſt, nicht aus eignem Willen ſuͤndigt er; iſt
eine Luſt in ihm, ſo iſt ſie ihm eben nur angehext,
angeflucht. Ja der Teufel nimmt ſich nicht einmal
die Muͤhe, ihn zu verfuͤhren, er muß ja ſuͤndigen,
wenn die Mitternachtglocke ſchlaͤgt, und der Dolch
iſt der Uhrzeiger, und das Herz, das er durchboh¬
ren ſoll, iſt die verhaͤngnißvolle Zahl; der Zeiger
ruͤckt und das Schreckliche geſchieht. Die Anſicht der
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[108/0118] Je groͤßer und wuͤrdiger der Held, deſto gewaltiger das Schickſal, deſto erhabener der Kampf, deſto edler die Dichtung. Der Held in ſeinem Widerſtande war der Maaßſtab des ganzen Gedichts. So hat auch Schiller das Trauerſpiel aufgefaßt, und es bei den Deutſchen zu einer Lieblingsdichtung gemacht. Was iſt aber daraus geworden, als kraͤnkliche Originali¬ taͤtsſucht und moraliſche Impotenz ſich auf Schiller's Lorbeern weich zu betten gedachten? Die Helden der neuen Schickſalstragoͤdie ſind wil¬ lenlos, ohne Werth, ohne Wuͤrde. Sie ſind von der Geburt an in der Gewalt der dunkeln Macht. Sie begehn ihre ſchauderhaften Unthaten nicht aus freiem Willen, ſondern aus Vorherbeſtimmung. Ein Fluch treibt ſie, von einer Ahnfrau ihnen angeboren, oder angehext von einer Zigeunerin, und ihre Suͤnde, wie ihre Strafe iſt durch die Sterne ſelbſt mit einer unabwendbaren Stunde ihres Lebens unzertrennlich verbunden. Der arme Suͤnder muß freveln, weil heute gerade der 24ſte oder 29ſte Februar iſt. Nicht aus Luſt, nicht aus eignem Willen ſuͤndigt er; iſt eine Luſt in ihm, ſo iſt ſie ihm eben nur angehext, angeflucht. Ja der Teufel nimmt ſich nicht einmal die Muͤhe, ihn zu verfuͤhren, er muß ja ſuͤndigen, wenn die Mitternachtglocke ſchlaͤgt, und der Dolch iſt der Uhrzeiger, und das Herz, das er durchboh¬ ren ſoll, iſt die verhaͤngnißvolle Zahl; der Zeiger ruͤckt und das Schreckliche geſchieht. Die Anſicht der Hexenproceſſe wird geiſtreich, wenn man ſie mit die¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/118>, abgerufen am 03.05.2024.